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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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ändern. Von jetzt an bin ich hier verantwortlich. Wenn in Skutari Männer sinnlos sterben, bin ich daran schuld. Ich habe nicht die Absicht, mir den Tod von Menschen auf mein Gewissen zu laden, Gefreiter May.«
    Rawlinson machte eine Pause. May stand noch immer reglos da, in der geschlossenen Hand den vergessenen Knopf.
    »Die Arbeiten haben bereits begonnen. Aber mit jeder zusätzlichen Hilfe werden wir schneller vorankommen. Es geht Ihnen nicht besonders gut, das sehe ich. Aber es geht Ihnen gut genug, denke ich. Die Arbeit, die wir tun, rettet Menschenleben. Vielleicht wird sie auch das Ihre retten. Wollen Sie uns helfen?«
    Lange herrschte Schweigen. May blickte Rawlinson unverwandt an. Er schluckte mehrmals und mahlte mit den Zähnen in seinem wunden Mund. Plötzlich schloss er die Augen. Aus seiner offenen Hand fiel der Jackenknopf lautlos zu Boden und rollte davon. Der Hauptmann zermalmte ihn unter seinem Stiefel, was ihm eine gewisse Genugtuung zu verschaffen schien.
    »Ja«, sagte May schließlich, ohne die Augen aufzuschlagen. Es kostete ihn solche Anstrengung, die Worte hervorzubringen, dass sie kaum vernehmbar waren. »Ja, Sir. Ich werde dabei helfen.«
    Am nächsten Tag wurde May vom Genesungsschiff in ein Quartier auf einem umgewandelten Kasernengelände einen Kilometer vom Hafen entfernt verlegt. Meath nahm seine Hand, schüttelte lächelnd den Kopf und nannte ihn einen Geheimniskrämer; es war dem sanften Iren nie in den Sinn gekommen, dass May lesen und schreiben könnte. Im weiteren Verlauf des Tages brachte ihn Rawlinson ins Hauptlazarett, wo man bei der Entfernung der Leitungen, die das Gebäude mit Trinkwasser versorgten, die verwesten Überreste eines Pferdes freigelegt hatte. Das erklärte, weshalb das Wasser im Glas immer trüb ausgesehen und modrig geschmeckt hatte. May sollte Schnittzeichnungen des bestehenden Abwassernetzes bis zu einer Tiefe von drei Metern anfertigen, so dass als vordringlichste Maßnahme ein neues Kanalsystem angelegt werden konnte. In der Materialausgabe legte man nicht wie üblich eine zögerliche Haltung an den Tag, als er die dafür notwendigen Werkzeuge anforderte. Mit sich allein, das Papier auf dem Zeichenbrett befestigt, starrte May auf die glänzende Wasserwaage in seiner Hand. Sie fühlte sich überraschend vertraut und zugleich völlig fremd an, und einen Augenblick war er sicher, dass er nie herausfinden würde, wie man sie benutzte. Das machte ihn so unruhig, dass er die Wasserwaage rasch auf den Tisch legte und sie aus seinem Blickfeld schob. Hätte ihn sein Gedächtnis nicht im Stich gelassen, so hätte er sich daran erinnert, dass er wenige Monate zuvor genau das gleiche Gefühl empfunden hatte, als er zum ersten Mal ein Gewehr in der Hand hielt.
     
    In den Bergen über Balaklawa war William manchmal während der Morgendämmerung, nach dem nächtelangen Dienst im Schützengraben, so durchgefroren ins Lager zurückgekehrt, dass er nicht wagte, die Stiefel auszuziehen, aus Angst, die Zehen könnten ihm abfallen. Mit den steif gefrorenen Fingern hätte er es ohnehin nicht geschafft, die verknoteten Schnürsenkel zu lösen. So kauerte er sich stattdessen vor das dürftige Feuer, das seine Kameraden aus der Kompanie zustande gebracht hatten, während in Füße, Hände und Ohren unter großen Schmerzen das Leben zurückkehrte. Eine Dienstschicht dauerte zwölf Stunden; noch vor Ablauf der ersten Stunde hatten sich die warmen, lebendigen Teile von Williams Körper in einen Ort tief in seinem Innern zurückgezogen, wo sie sich den Rest der Nacht über verkrochen wie Kinder, die sich in einem verlassenen Haus verstecken. Und als sie schließlich gefunden wurden, waren sie außer Rand und Band. Hände und Füße schwollen ihm an, bis die gespannte, durchscheinende Haut aufplatzte wie eine überreife Frucht. Finger und Zehen wurden steif und ließen sich vor Schmerz nicht mehr bewegen. Die Entzündung in den Gelenken verursachte kastaniengroße weiße und purpurrote Beulen, die derart brannten und juckten, dass er schier verrückt wurde. Wollte er die Eintragung in das Wachbuch machen, rutschte ihm immer wieder der Bleistift aus den Fingern, und die Schrift auf dem Papier geriet so dünn und ungelenk, dass man sie kaum entziffern konnte. Seine Ohren bluteten. Manchmal wurde der Schmerz beim Aufwärmen so unerträglich, dass er am liebsten im Schnee geschlafen hätte, und so kehrte er zuweilen auf seinen eisigen Posten zurück, um sich nicht der Pein des Auftauens

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