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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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Rasiermesser griff. Schon veränderte sich der Druck in seinem Kopf, in der geballten Schwärze reifte ein Entschluss heran. Sehr langsam, die Hand noch ein wenig zittrig, fuhr er mit der Schneide über die nicht eingeschäumte Wange und drückte sich die Klinge gemächlich ins Fleisch, bis es blutete.
    Der Schnitt war nicht tief, wirkte aber so zuverlässig wie das Ventil einer Dampfmaschine. Die Erleichterung war herrlich. Mit dem herausfließenden Blut verflüchtigte sich die schreckliche Schwärze. Ihn überkam das Gefühl, besänftigt und geläutert zu werden. Und das Blut bewies ihm, dass er noch am Leben war. Er fühlte sich in Hochstimmung, gleichzeitig aber völlig ruhig. Sanft drückte er ein sauberes Tuch auf die Wunde. Als er dem Inspekteur das Rasiermesser zurückbrachte, konnte er ganz unbefangen über seine Ungeschicklichkeit, seine mangelnde Fingerfertigkeit scherzen. Man gab ihm Jod, mit dem er sorgfältig den Schnitt reinigte. Zum ersten Mal seit Monaten fühlte er sich bei vollem Bewusstsein und Herr seiner selbst. Er lächelte. Der stechende Schmerz, der dabei in seiner Wange brannte, ließ ihn erneut lächeln. Und mit der Taubheit, die mit der Zeit zurückkehrte, kam eine Ruhe über ihn, die er bisher nicht gekannt hatte. Es war so einfach. Rawlinson lobte ihn, weil er seine Arbeit zügig und penibel erledigte. William lernte schnell und vertiefte sich immer mehr in die technischen Einzelheiten von Durchmesser, Gradient und Neigungswinkel, anhand deren handfest und solide seine Pläne erwuchsen. Eines Nachmittags unterbreitete William, wenngleich zögerlich, selbst einen Lösungsvorschlag für ein Problem mit der Spülung an der Westseite des Kasernenlazaretts, der auf Zustimmung stieß und auch umgesetzt wurde. Zwei lange Wochen ging William ganz in seiner Arbeit auf. Langsam, ganz langsam, fing er an, sich nicht mehr als Gefreiter May zu sehen, der im Krimkrieg verwundet worden war, sondern als William Henry May, Kartograph und Landvermesser. Er sah die Zukunft zwar nicht weit vor sich ausgebreitet, ja eigentlich nur bis zu den Erfordernissen des nächsten Tages, aber es war immerhin eine Zukunft, während es viele Monate lang überhaupt keine gegeben hatte.
    Zwei Wochen. Und dann begann der Druck sich wieder aufzubauen. Diesmal schnitt sich William mit einem Fleischmesser in den Oberschenkel. Die Wunde war viel tiefer als beim ersten Mal, und anschließend konnte er sich an kein einziges Detail erinnern. Diese Gedächtnislücke beunruhigte ihn, aber keineswegs so sehr wie die Vorstellung, sich keine Verletzungen mehr zuzufügen. Beim nächsten Mal schnitt er sich in den anderen Oberschenkel, danach in die Arme. Jedes Mal konnte er sich anschließend an nichts mehr erinnern. Er gewöhnte sich an, diese Gedächtnislücken nicht länger zu fürchten, sondern jenen Augenblick der vollkommenen Ekstase zu genießen, wenn er mit dem herrlich purpurroten Aufschrei des Blutes wieder zu sich selbst kam. Von da an waren es immer die Arme. Er war stolz darauf. Die Arme konnte man leichter abbinden, und es ging schneller. Wenn er sich schneiden wollte, musste er nur den Ärmel hochschieben. Und sobald er ihn wieder heruntergerollt hatte, kannte nur er die genaue Form der Muster auf der Armunterseite, die dünnen, rosaroten Wülste der Narben, die den verkrusteten Schorf und die klaffenden Risse der jüngsten Schnitte kreuzten. Die Linien breiteten sich wie ein Fischernetz über seine Haut aus, das ihn gefangen hielt. Stets trug er ein Messer in der Tasche. Manchmal, wenn sich der Druck aufbaute, aber noch nicht unerträglich war, fuhr er mit der stumpfen Seite der Klinge sanft über dieses Muster.
    Es wurde wärmer und bald erdrückend heiß. Erst taute der Morast auf, dann buk die Sonne ihn zu hohen Furchen. Im Juli rief Rawlinson seine Mannschaft zu sich. Ihre Arbeit, teilte er ihnen von ruhigem Stolz erfüllt mit, sei fast abgeschlossen. Die Sterberate unter den Patienten habe sich von zuvor fünfzig auf rund zwei Prozent vermindert, und das sei fast ausschließlich den verbesserten hygienischen Bedingungen und sanitären Anlagen zu verdanken, dem Ergebnis ihrer Arbeit. Es bestehe für Rawlinson keine Notwendigkeit mehr, in der Türkei zu bleiben. Er werde zu gegebener Zeit nach England zurückkehren, aber zuvor beabsichtige er noch, an die Front zu reisen, um sich ein eigenes Bild von den Kämpfen zu verschaffen, die so viele Männer hierher in die Lazarette von Skutari brachten. In der kommenden Woche

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