Der Vermesser (German Edition)
worauf man sich verlassen konnte, ihr immergleicher Gestank: ein süßlicher Geruch nach verfaultem Abfall, hier und da versetzt mit dem heißen Fett von gebratenem Fisch, und dem Furzgestank gekochter Kohlstrünke. Beißender blauer Tabakqualm hing über den Abfallhaufen, in denen Frauen, kurze, schwarze Tonpfeifen zwischen den Zähnen, barfuß und mit hochgebundenen Röcken nach Lumpen und Knochen wühlten. In den Hauseingängen kauernd, dösten ihre Männer vor sich hin, die Gesichter erstarrt, aufgedunsen und purpurrot, ja, manchmal sogar schwarz vom Gin. Der Duft frischen Porters stieg Tom in die Nase und überlagerte den Geruch nach abgestandenem Bier. Eine Sekunde darauf rempelten die beiden Schankburschen ihn an, in ihren hölzernen Traggestellen schwere Krüge, die bis zum Rand mit der Stärkung für die Erdarbeiter in der Dean Street gefüllt waren. Toms Schätzung nach musste es etwa vier Uhr nachmittags sein. Seit dem Morgengrauen pendelten die Jungen regelmäßig wie Weberschiffchen zwischen Schenke und Baustelle hin und her.
Das Black Badger duckte sich in den Winkel, wo die Gasse eine Biegung machte und sich, gleichsam zu Tode erschrocken über ihre eigene Kühnheit, so unvermittelt verengte, dass Tom und Joe nicht mehr nebeneinander gehen konnten. Das Haus war wohl einmal weiß getüncht gewesen, aber solange Tom es kannte, war die Fassade von rußig schwarzen Schwären überzogen, der Anstrich längst abgeblättert. Mit finsterer Miene schielte es zwischen der arg ramponierten Mütze seines niedrigen Daches und dem Stoppelbart aus Dreck hervor, der ihm ums Kinn spross. Die Fenster waren verschmiert und dunkel, etliche Scheiben zerbrochen und mit Holzbrettern und altem Dachschiefer notdürftig geflickt. Fremde hätten sich schwer getan, auf der Vorderseite einen Eingang zu finden, denn anstelle einer Tür gab es nur eine dicke Eisenplatte mit Rostflecken, die dreißig Zentimeter tief in den schlammigen Boden gerammt und mit der Strebe eines Treppengeländers versperrt war. Man hätte meinen können, es sei ein verlassener Ort.
Das Badger unterschied sich in jeder nur erdenklichen Hinsicht von der prächtigen Taverne, die das Auge am östlichen Ende der Broad Street blendete. Die spiegelnden Glasfenster des Golden Hind waren mit Stuckrosetten verziert und von unzähligen Gasflämmchen erleuchtet, die in ihren reich vergoldeten Haltern mit solch verschwenderischer Üppigkeit Glanz verbreiteten, dass die Fenster in Flammen zu stehen schienen. Die Pracht eines solchen Palastes – die aufwendige Verzierung der Brüstung und die illuminierte goldene Uhr, die die Viertelstunden schlug, die glitzernden Spiegel, umrahmt mit geschnitzten prallen Weintrauben und Jasminranken, die glänzende Mahagonitheke und das fröhliche Funkeln der Gläser – schlug den Vorübergehenden wie ein greller Willkommensgruß entgegen, auf dass niemand die Last der Münzen in seiner Tasche auch nur eine Minute länger als nötig trage. Und viele waren es, die sich verführen ließen, um es danach zu bereuen. Das Black Badger dagegen duckte sich in Dunkelheit und Morast, die Hände tief in den Taschen vergraben. Es pfiff nicht vor sich hin, ja, räusperte sich nicht einmal. Ihm war nicht an Aufmerksamkeit gelegen. Seine Kunden wussten, wo es zu finden war und was sie dort erwartete. Wer mit dem Badger zu tun hatte, kannte und schätzte diese Unauffälligkeit, weil er am liebsten genauso unauffällig seinen Geschäften nachging, sofern er nicht gerade vor den Vertretern der Obrigkeit auf der Flucht war.
Und die Leute strömten in hellen Scharen und aus allen Richtungen ins Black Badger. Wenn sie durch den Türspalt an der rechten Flanke der Taverne hereingelassen wurden, störten sie sich nicht an der rauchgeschwärzten Tapete in der Schankstube und der stumpfen Glanzlosigkeit der ramponierten Zinnkrüge. Natürlich kamen sie auch hierher, um zu trinken. Abend für Abend hoben sie im Rhythmus der Kolben einer Dampfmaschine die Bierkrüge und Gläser mit Gin und heißem Wasser an die Münder und setzten sie wieder ab. Ihre Blicke und ihre Aufmerksamkeit galten jedoch nicht allein dem Boden ihrer Krüge. Diese Männer – Straßenhändler, Soldaten, Kutscher und Ladenbesitzer – kamen aus einem anderen Grund in das Black Badger: Sie wollten Wetten abschließen. Sie kamen des Kampfes wegen. Sie waren auf den Kampf versessen.
Tom und Joe traten, ohne anzuklopfen, durch die Seitentür ein und stellten die Käfige am Fuß der
Weitere Kostenlose Bücher