Der Vermesser (German Edition)
werde er per Schiff nach Balaklawa fahren. Vielleicht, sagte er und nickte den Männern ernst zu, würden manche von ihnen so weit wiederhergestellt sein, dass sie zur kämpfenden Truppe zurückkehren könnten, noch während er die Front inspiziere. Er hoffe, dass sie ihm dann, sofern ihr Dienst und die Umstände es erlaubten, die Ehre erweisen würden, ihm dort einen Besuch abzustatten.
Nach Rawlinsons Abreise schnitt sich William noch häufiger, und er schlief auch unruhiger. Seine Albträume wurden besonders intensiv. Er träumte, er befinde sich im Keller neben dem Hauptlazarett, wo bis vor kurzem Soldatenfrauen auf dem gestampften Lehmboden gehaust hatten – ihre Betten und Körper nur ein Haufen schmutziger Lumpen. Eine schnarrende Stimme, die er als seine eigene erkannte, befahl den Frauen einer nach der anderen, sich entlang der Wand aufzustellen. Es schneite im Keller. Ein Mann in der grauen Uniform eines russischen Soldaten, das Gesicht durch einen aufgemalten Bart unkenntlich gemacht, wandte sich ihm zu und fragte mit einer leichten Verbeugung und dem unverwechselbaren steifen Akzent eines englischen Gentlemans: »Jetzt?«
»Jetzt!«, bellte die gesichtslose Stimme. Der Russe pflanzte sein Bajonett auf und richtete es auf die erste Frau. Die Klinge glänzte im Licht. Die Frau bedeckte das Gesicht und drückte sich gegen die Wand. Dann sackte sie in sich zusammen, ihr toter Körper schwarz wie der eines Schornsteinfegers. Der Russe wandte sich der Stimme zu und lächelte. Das Lächeln verformte seinen Bart zu einem grau durchwirkten Spatenblatt. Seine grauen Augen blinzelten. Der Russe war Rawlinson.
»Du hast mich getötet«, meinte er beiläufig, die Hand auf der Brust. Blut floss ihm in dicken, roten Streifen durch die Finger. Und dann noch einmal: »Du hast mich getötet!« Beim zweiten Mal brachen die Worte mit Zorn und Verachtung hervor.
William wachte auf, als Rawlinson zu Boden fiel. Sein Hemd war tropfnass vor Schweiß. Den Rest der Nacht setzte er sich kerzengerade hin, die Arme um die Knie geschlungen. Einige Tage danach kam Nachricht von der Front. Rawlinson würde nicht mehr nach Skutari zurückkehren. Er war in den Gräben südlich von Sewastopol durch eine verirrte Kugel verwundet worden. Seine Verletzungen waren schwer, aber nicht lebensbedrohlich; der Arzt im Feldlazarett hatte geraten, ihn direkt nach England zurückzuschaffen und seine Habseligkeiten an eine Adresse in London zu schicken. In jener Nacht schnitt sich William so tief, dass er sich eine Sehne verletzte. Ihm blieb keine Wahl, als eine Krankenschwester um Hilfe zu rufen. Als er ihr erklärte, dass ihm das Rasiermesser versehentlich aus der Hand gerutscht sei, runzelte sie die Stirn und biss sich auf die Lippe. Anfang August erhielt William Mitteilung über seine eigene Zukunft. Man hatte ihn als nicht mehr verwendungsfähig für den aktiven Dienst eingestuft. Er werde als Invalide aus der Armee entlassen und nach Hause geschickt, wo er eine kleine Pension erhalte.
Das Schiff, das ihn nach England bringen sollte, legte an einem sonnigen Septembernachmittag in Skutari an. Es hatte frische Truppen auf den Balkan befördert, die erst einmal auf dem Stützpunkt Skutari Instandsetzungsarbeiten durchführen würden, bevor man sie an die Front verlegte. Trotz ihrer langen Reise wirkten die Soldaten sauber, munter und außergewöhnlich jung, als sie vom Schiff stiegen und sich umsahen. William ging ihnen aus dem Weg, aber an seinem letzten Nachmittag traf es sich, dass er plötzlich zwei von ihnen vor sich hatte, die den staubigen Pfad hinauf zu ihrem Lager erklommen. Im Gehen sangen sie ein Lied und schwangen im Rhythmus der Verse die Arme.
Freut Euch, Ihr Jungs, so freut Euch,
Die faule Trübsal ist vorbei,
Mit Mut und kühnem Herzen beschreiten wir den Weg,
Vor uns liegt die Hoffnung und macht uns frei,
Das finst’re Heute ist uns einerlei.
IV
D ie Schenke namens Black Badger lag am Ende einer morastigen Gasse inmitten eines Gewirrs gewundener Sträßchen, die von der unteren Broad Street abzweigten. Wenn Tom durch die Gasse ging, dachte er jedes Mal, dass sie sich trotz ihrer Länge wohl einfach nicht entscheiden konnte, ob sie sich nun nach rechts oder nach links wenden, ob sie breit oder schmal, schnurgerade oder lieber gekrümmt sein wollte. Abgesehen von dem Graben mit der sumpfigen Brühe, der wie ein Rückgrat aus Schlamm die ganze Gasse durchzog und an den flacheren Stellen Pfützen bildete, war das Einzige,
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