Der Vermesser (German Edition)
Niederkunft näherte und der Doktor fürchtete, ihr Zustand könne nicht länger verborgen bleiben, rief er Polly erneut in sein Sprechzimmer. Stolz auf seine radikalen Grundsätze, hatte er beschlossen, Pollys Lage nicht ihrer Lasterhaftigkeit, sondern ihrer Dummheit zuzuschreiben. Polly war zwar ungebildet, aber von sanftem Gemüt, und die Kinder hingen an ihr. Wenn ihr Geliebter im Krieg gefallen war, wie der Doktor vermutete, konnte sie sich als Witwe ausgeben. Zwar würde er all seine Überredungskünste aufbieten müssen, aber er war zuversichtlich, dass seine Gattin Polly nach ihrer Entbindung erlauben würde, bei ihnen zu bleiben, solange die Kinder nichts von der Sache erfuhren. Er kannte eine Frau in Battersea, die eine Art Findelhaus leitete, wo der Säugling für ein geringes Entgelt unterkommen konnte. Nur wenige in ihrer Position durften auf solche Güte hoffen, doch Polly zeigte sich wenig überrascht von dem Vorschlag des Doktors und war einverstanden. Lachte das Glück nicht dem, der ihm vertraute? Am Ende ihres siebten Schwangerschaftsmonats fuhr sie mit der Kutsche zu dem bescheidenen Cottage ihres Bruders nach Kent, wo sie die letzten Wochen vor der Niederkunft verbrachte. Ihre Schwägerin, die selbst keine Kinder bekommen konnte, bot mit missgünstiger Scheinheiligkeit an, das Kind nach der Geburt als ihr eigenes anzunehmen. Darüber konnte Polly nur lachen.
Sobald sie wieder reisefähig war, kehrte sie ins Haus des Doktors zurück und ging dort ihren gewohnten Pflichten nach. Sie wollte nichts von der Front hören. Schließlich schmolz in London der Schnee, und die ungepflasterten Straßen von Battersea weichten auf und wurden rutschig. Jeden Sonntagnachmittag stapfte sie durch den Matsch zu dem baufälligen Häuschen der Alten hinter den Bahngleisen. Nur selten ging sie mit dem kleinen William ins Freie. Sie wiegte ihn in ihrem Schoß, sog seinen süßen milchigen Geruch ein und konnte sich gar nicht satt sehen an ihm. Er blickte sie mit seinen karamellbraunen, goldgesprenkelten Augen an. Der süße kleine William. Ein kräftiges Baby, das so gar nichts von einer Blume an sich hatte. Nur wenn es schrie, wurde sein Gesicht purpurrot wie ein Waldfingerhut. Dann beruhigte sie ihn, schmiegte seine weiche Wange an ihr Gesicht und flüsterte ihm von jenem vollkommenen Glück ins Ohr, das sie beide erwartete, sobald sein Vater aus dem Krieg wiederkam. Er würde sie, seine beiden kostbaren Blumen, in die Arme schließen und fest an sich drücken. Er würde ihnen Sicherheit und Geborgenheit schenken.
Den ausgemergelten, gehetzten Mann, der Ende 1855 zu ihr zurückkehrte, erkannte Polly kaum wieder. Ihr Sohn war nun fast ein Jahr alt. William akzeptierte das Baby, ohne zu fragen, genau wie Polly es erwartet hatte. Manchmal saß er stundenlang an seinem Bettchen, während es schlief, und strich die Häkeldecke glatt. Aber als Polly sich auf Zehenspitzen stellte, um ihn zu küssen, sah er sie nur verständnislos an. Er redete kaum ein Wort. Er nannte sie nicht mehr seine Blume, seine kostbare Kreuzblume. Er sprach überhaupt nicht mehr von Blumen, obwohl er nach wie vor seine abgegriffenen botanischen Skizzenbücher in der Jackentasche bei sich trug. Auf dem Ledereinband eines dieser Bücher sah man einen verlaufenen dunklen Fleck. Manchmal, wenn sie ihn drängte, das Baby in den Armen zu wiegen, und er in das pausbackige Gesicht seines Sohnes blickte, erstarrte er und gab ihr mit einem panischen Ausdruck den Säugling schnell wieder zurück. Seine Wangenknochen ragten spitz wie Ellbogen aus dem Gesicht.
Am letzten Tag im Januar 1856 wurden sie getraut. Polly hatte alles arrangiert und ließ sich nicht entmutigen. Er brauchte Zeit, um sich an seine Rolle als Vater zu gewöhnen, tröstete sie sich und ihn. Er brauchte Ruhe und nahrhaftes Essen, um wieder Fleisch auf die Knochen zu bekommen. Vor allem aber musste er eine Arbeit finden, damit sie als Familie zusammenleben konnten. Die kleine Pension, die William von der Armee erhielt, reichte kaum für ihn allein, so dass Polly ihre Tätigkeit beim Doktor nicht aufgeben konnte. Sie redete ihm zu, sich eine Stelle als Kartograph zu suchen oder im Ingenieurwesen, wo er auf seinen Erfahrungen in Skutari aufbauen konnte. Heimlich schrieb sie einen Brief an Mr. Rawlinson, in dem sie ihn um Hilfe bat; die Zunge zwischen den Zähnen, malte sie mühsam die Worte aufs Papier. Er schrieb ihr mit ausgesuchter Höflichkeit zurück, er hege die größte Achtung vor
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