Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
Vom Netzwerk:
ihrem Mann, aber da er selbst noch nicht genesen sei, könne er ihr im Augenblick nicht helfen. William zeigte sie den Brief nicht, denn sie wollte ihn nicht entmutigen oder enttäuschen. Er selbst unternahm nichts, dazu fehlte ihm offensichtlich die Kraft. Natürlich war er ausgelaugt. Er bewegte sich langsam und schlief wenig, wurde immer dünner, und manchmal, wenn sie mit ihm sprach, konnte er sie nur mühsam verstehen. Bald nach seiner Rückkehr aus Skutari bestand sie darauf, die Wunden an seinen Unterarmen zu säubern. Sie begutachtete sie nur flüchtig, legte frische Verbände an und meinte lediglich, dass seine Verletzungen wohl deshalb so schlecht heilten, weil er insgesamt körperlich so schwach sei. Danach ließ sie ihn selbst die Verbände wechseln. In der Kinderstube der Graingers wurde ihre Stimme immer schriller, und nicht selten verlor sie die Geduld. Einmal gab sie George eine so heftige Ohrfeige, dass auf seiner Wange ein roter Abdruck ihrer Hand zurückblieb. Als sie ihn um Verzeihung bat, weinten sie beide.
    Der Brief kam Ende Juni. Das Amt für öffentliche Bauvorhaben bot William eine Stelle in der Abwasserbehörde an. Mr. Rawlinson persönlich, ehemals Mitglied der Hygienekommission, habe William für den Posten wärmstens empfohlen, hieß es in dem Schreiben weiter. Das Anfangsgehalt betrage einhundertzwanzig Pfund im Jahr. Als William ihr davon erzählte, lachte und weinte sie zugleich und drückte seine Hand an ihre Wange. Er zog sie zurück und starrte auf die Tränen, die auf seinen Fingerknöcheln glänzten. Polly beachtete das gar nicht, sondern schlang die Arme um seinen reglosen Körper und küsste ihn. Einhundertzwanzig Pfund im Jahr! Was sollte mit einem Mann nicht stimmen, den man für so herausragend und bedeutend hielt, dass man ihm einhundertzwanzig Pfund im Jahr zahlte? Jetzt konnten sie es sich leisten, ein kleines Häuschen zu mieten und vielleicht sogar ein Mädchen für die schwere Arbeit kommen zu lassen. Sie würden geachtet sein; sie würden glücklich sein, wie sie es von jeher gewusst hatte. Die unbekannten dunklen Schatten, die in den vergangenen Monaten in den geheimen Winkeln ihres Herzens gelauert hatten, verschwanden mit einem Mal im Glanz des neu gewonnenen Lebensmutes. Sie hatte ihnen nie Beachtung geschenkt; jetzt vergaß sie sie ganz. All ihre Hoffnungen hatten sich ihr Recht zurückerobert. Der Grund dafür, dass sich William nach seiner Rückkehr so in sich selbst zurückgezogen hatte, war nur die Sorge um die Zukunft gewesen. Er war ein Mann von Ehre und Gewissen, und daher lastete die Verantwortung für seine Frau und seinen Sohn gewiss schwer auf ihm; doch getragen von Achtbarkeit und einem festen, ansehnlichen Gehalt und getröstet durch die Fürsorge und Liebe seiner Frau und seines Sohnes, würde er bald wieder gesund werden. Leichten Herzens kündigte Polly ihre Stellung beim Doktor und zog mit ihrer Familie in ein Reihenhäuschen in Lambeth, das sie für achtzehn Pfund im Jahr mieteten.

VI
    H unde waren ein Fluch in den Abwasserkanälen, das wusste jeder. Als Kanaljäger hatte man zwei Regeln zu beherzigen: Man musste langsam und bedächtig gehen, und man durfte keine Hunde mitnehmen. Sicher, Hunde waren manchmal durchaus von Nutzen, wenn die Ratten es darauf abgesehen hatten, einen anzugreifen; aber welchen Nutzen hatte das, wenn man nicht mal dreißig Meter an sie herankam. Der Hund brauchte nur einmal zu schnüffeln, und schon waren die Ratten auf und davon. Und das Gebell der Hunde – und sie bellten immer, schon allein wegen der Dunkelheit und erst recht, wenn sie die Ratten witterten – hörte man noch eine Straße weiter, und dann hatte man, ehe man auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte, die Polypen am Hals. Einen Hund mit in die Tunnel zu nehmen war, als würde man sich unter ein Gitter stellen und die Laterne wie einen Leuchtturm blinken lassen. Man beschwor den Ärger geradezu herauf.
    Der Rote Joe war sich klar darüber, dass auch Tom das wusste, er hatte es ihm ja schließlich beigebracht. Aber er machte trotzdem eine Bemerkung und warf dem Hund, der hinter Tom herschlich, einen bösen Blick zu. Es war ein krätziger, ja fast schon altersschwacher Köter mit Ohren, die in verschiedene Richtungen abstanden, und einem so dünnen Fell, dass man die Haut durchscheinen sah. Er konnte einem nicht mal in die Augen schauen. Joe fragte sich, warum Tom ausgerechnet an diesem Hund einen Narren gefressen hatte. Als Joe die beiden vor ein

Weitere Kostenlose Bücher