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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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werden. Stein war teuer und unzweckmäßig. Lediglich Backstein und Mörtel verfügten über die erforderliche Festigkeit sowie die notwendige bauliche Anpassungsfähigkeit. Doch gewöhnlicher Mauerziegel und Mörtel waren porös. Sie absorbierten Wasser und feinste Partikel, die sie rissig und brüchig werden ließen; allmählich lösten sie sich auf und bewirkten, dass die Kanäle verstopften. Ihre Instandhaltung wäre kostspielig und würde die Leistungsfähigkeit des Kanalnetzes schwer beeinträchtigen. Also musste eine andere Lösung gefunden werden. Experimente mit Portlandzement hatten alle Erwartungen übertroffen. Bazalgette hatte bewiesen, dass dieses Material nicht nur die Grundlage für einen Wasser abweisenden Mörtel bildete, sondern dass der so hergestellte Mörtel erhärtete, ohne auszutrocknen. Blieb nur noch ein Problem. Zu Frühjahrsbeginn 1858 , als die noch zartgrünen Schneeglöckchen am Soho Square im eisigen Wind fröstelten, rief Bazalgette May und zwei Ingenieure in sein Büro und übertrug ihnen unter Lovicks bewährter Leitung die Verantwortung für die Entwicklung eines kostengünstigen, wasserundurchlässigen Backsteins.
     
    William starrte auf das Abendessen, das vor ihm auf dem Tisch stand, und wischte sich die feuchten Handflächen an den Knien ab. Obwohl er nur ein Baumwollhemd trug, schwitzte er unter den Achseln, und der dünne Stoff klebte ihm am Rücken. Er hatte keinen Appetit. Der Fisch glänzte auf dem Teller, schlaff und mit offenem Maul, als machte auch ihm die Hitze zu schaffen.
    »Woran denkst du?«
    William blinzelte gedankenverloren, dann lächelte er seine Frau an.
    »Ich dachte gerade über blaue Staffordshires nach«, sagte er entschuldigend.
    »Lass mich raten. Das ist doch nicht etwa eine Backsteinart?«
    »Ich fürchte, doch.«
    Polly kicherte und ließ sich vorsichtig in einen Stuhl aus Bugholz sinken. »Das hätte ich mir denken können«, meinte sie kopfschüttelnd. »Deine Staffordshire-Ziegel sind womöglich blau wie Saphir und ein wahres Weltwunder, aber ich habe in den vergangenen Monaten so viele Backsteine gekauft, dass ich mir ein ganzes Haus damit bauen könnte.« Schwer atmend lehnte sie sich zurück und fächelte sich Luft zu. »Sieh dir das an! Wie oft habe ich dem Mädchen schon gesagt, dass sie die Zimmerecken sauber fegen soll. Neun Pence pro Woche, und sie wird der Spinnen trotzdem nicht Herr!«
    Polly machte im Sitzen eine ärgerliche Handbewegung zu dem Spinnennetz an der Decke. Haarsträhnen klebten ihr an den verschwitzten Wangen. In der drückenden Hitze waren ihre Gelenke an Händen und Füßen, ja sogar ihre Wangen angeschwollen, und wie sie so auf dem harten Stuhl saß, sah sie aus wie eine ausgestopfte Puppe. Seit sechs langen Wochen blickten die Bewohner der Stadt jeden Morgen zu dem erbarmungslosen weißen Brennofen am Himmel hoch und sehnten sich den Sonnenuntergang herbei. Kein Lüftchen regte sich. Durch die geöffneten Fenster wehten nur die schweren säuerlichen Ausdünstungen von einer Million Körpern aus tausend windstillen Gassen und Höfen herein und der noch penetrantere Gestank des braunen fauligen Flusses. Die Dampfschiffe quälten sich durch die trübe, stinkende Brühe, ihre Schaufeln wirbelten die gärenden Untiefen auf und schleuderten den stinkenden Schlamm an die Steinfassaden der Brücken und Häuser. Die Fußgänger hielten sich Taschentücher vor den Mund oder wickelten sich ihre Halsbinde vors Gesicht und versuchten, möglichst nicht zu atmen. Jedermann fürchtete die Cholera, deren Gifthauch sich über der Stadt verdichtete wie Novembernebel. Wer konnte, war längst aus London geflüchtet.
    Auf Pollys neuem Kleid zeichneten sich unter den Achseln dunkle Flecken ab, und am Hals hatte sie eine wunde Stelle, weil der Kragen scheuerte. Sie rieb mit den aufgedunsenen Fingern darüber. Das Kleid hatte mehr gekostet, als sie sich eigentlich leisten konnten, aber sie war ja jetzt eine achtbare Frau. Sie konnte einfach nicht mehr dieselben Sachen tragen wie während ihrer Zeit als Dienstmädchen. Außerdem hatte sie dem hübschen gestreiften Stoff nicht widerstehen können. Sie strich ihn liebevoll glatt.
    Aus dem oberen Stock hörte sie ein leises Wimmern, als sich der kleine William im Schlaf hin und her wälzte, auf der Suche nach einem kühlen Fleckchen auf dem Laken.
    »Unser kleines Engelchen hat immer noch Bauchweh«, sagte Polly und lauschte, den Kopf leicht geneigt. »Godfrey’s Cordial, dieses

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