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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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widersprochen. Seiner Meinung nach gab es nur eine Ziegelei, die dazu in der Lage war – eine Fabrik in Strowbridge, die weltweit als erste makellos lasierte Porzellanbadewannen produzierte. Für diese Leistung war der Hersteller bei der Weltausstellung 1851 mit der Goldmedaille ausgezeichnet worden, und entsprechend groß war inzwischen die Nachfrage von Krankenhäusern und Heimen nach diesen Wannen. Um der Nachfrage gerecht zu werden, hatte die Firma eine patentierte Herstellungsmethode entwickelt – zehn miteinander verbundene Brennöfen, verteilt über eine Fläche von fast einem Hektar, die dank ihrer raffinierten Bauweise und eines ausgeklügelten Systems von Rauchgaskanälen trotz ihres großen Volumens nur wenig Brennstoff benötigten und somit die Herstellung Hunderter Badewannen pro Woche ermöglichten. Wenn man nur einige Brennöfen mehr in Betrieb nehmen und die gesamte Produktion auf Backstein umstellen würde …
    Tapsende Schritte auf den Fliesen im Flur holten ihn in die Wirklichkeit zurück. Es war längst dunkel geworden, doch der Vollmond, der am Firmament glänzte, warf silberne Streifen auf den Hof. Wenn Polly fragte, würde er sagen, er habe über den Garten nachgedacht, beschloss er hastig. Das würde sie freuen. Aber als er sich umdrehte, stand sein Sohn vor ihm und sah ihn mit schläfrigen Augen an, den Daumen im Mund. Auf seinen sommersprossigen Wangen hatten Tränen salzige Spuren hinterlassen.
    »Hallo, kleiner Mann«, murmelte William und breitete die Arme aus. Der Junge ließ sich hineinfallen, und als William aufstand und ihn hinauftrug, war der Kleine fast schon wieder eingeschlafen. Der Mond ergoss sein glänzendes Licht über das Bettchen. William legte seinen Sohn hinein und deckte ihn zu. Seine Lider haben die gleiche Maserung wie die seiner Mutter, dachte William, so zart und weit verzweigt wie die Äderung eines Blattes. Muster, wie er sie schon mit einem Stock in die Erde geritzt oder in seine Kladde in der Greek Street gezeichnet hatte, Muster wie …
    Nachdenklich strich er über die Innenseite seines Unterarms und ertastete die Wülste unter dem dünnen Baumwollstoff des Ärmels. Er hatte keine offenen Schnittwunden mehr, nur verblassende Narben und rosafarbene Linien dort, wo sich der Schorf abgelöst hatte. Gewiss, es gab viele Tage, an denen er sich hilflos und unsicher fühlte und sich vorsichtig und mit steifen Armen bewegte, als würde er Wasser in einem flachen Gefäß transportieren, das jeden Moment herausschwappen konnte. Aber er hatte nicht mehr das Gefühl, sich aufzulösen. Berührte er nachts Pollys heiße, feuchte Haut, dann erbebten seine Lenden. Hielt er seinen Sohn in den Armen, spürte er fast bis in die Fußsohlen eine schmerzliche, liebevolle Zuneigung. Untersuchte er die Machart eines Backsteins, dehnte und streckte sich sein Geist. Wenn er an seinen besten Tagen still dasaß, empfand er fast so etwas wie Zufriedenheit. Und an schlechten Tagen, wenn er merkte, dass das Gefäß zu zittern anfing und überzuschwappen drohte, verkroch er sich in den Abwasserkanälen und blieb dort, bis es vorüber war.
    Seit fast einem Monat hatte er sich nicht mehr geschnitten. Er wagte es kaum zu hoffen, aber irgendwo in seinem Hinterkopf regte sich der Gedanke, dass sein Blut vielleicht doch endgültig von aller Schwärze gereinigt worden war. Beim letzten Mal hatte ihn die Intensität des Erlebnisses weit über alles hinausgetragen, was er bis dahin gekannt hatte, und er hatte sich der wohligen Ekstase der Erlösung vollkommen hingegeben. Die Zeit war vergangen wie im Flug. Als dann das warnende Scheppern des Kanaldeckels ertönte, dauerte es einige Minuten, bis er wieder in die Gegenwart zurückfand. Sein ganzes Sein war durchdrungen von einer weißen, reinen Ruhe, in der sich die Buchstaben seines Namens in einer unendlichen Abfolge ständig wiederholten. Er war William. Sein laut pochendes Herz bekräftigte es:
William – William – William.
Er war in Sicherheit. Er stand auf und tastete nach dem Messer in seinem Schoß, aber es war nicht da. Es lag auch nicht in der Nische. Er erinnerte sich an nichts, aber es musste ihm aus der Hand ins strömende Wasser gefallen sein. Es war unwichtig. Er fühlte sich ruhig und gefasst. Als er wieder oben war, drückte er dem dankbaren Ausspüler einen Shilling in die Hand und ging langsam nach Hause. Erst sehr viel später fiel ihm ein, dass er die Arme baden musste. Er tat es rasch, fast ohne richtig hinzusehen, und

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