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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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betupfte die Wunden mit Jod. Als er jedoch den Wattebausch wegnahm und einen flüchtigen Blick auf die gelb gefärbte Haut warf, war es nicht das Antiseptikum, das ihm den Atem raubte. Er musste mehrmals blinzeln und den Kopf schütteln, um Klarheit zu gewinnen, aber das Bild vor seinen Augen verschwand nicht. Unverkennbar, die schräg auf- und abwärts verlaufenden Schnitte auf seinem Arm ergaben ein präzises Muster. Hastig wusch und verband er sich den Arm. Er würde ihn nicht wieder ansehen. Er würde nicht mehr daran denken. Es hatte nichts zu bedeuten. Die Schnitte liefen an den Endpunkten einfach nur zusammen, mehr nicht. Es war reiner Zufall, dass er sich nicht parallel verlaufende oder kreuzende Linien, sondern tief und deutlich den Buchstaben »W« in die Haut geritzt hatte.
     
    Es vergingen zwei weitere Wochen, bevor die mörderische Hitze endlich nachließ. Doch bis dahin hatte sie der sanitären Verwaltung der Hauptstadt einen ähnlichen Ruf eingetragen wie der Aufstand in Bengalen ein Jahr zuvor der britischen Verwaltung Indiens. Die Zeitungen nannten es einfach nur noch »Der Große Gestank«. Tag um Tag, Woche um Woche hatte der Hadesstrom der Themse in der erbarmungslosen Sonne gebrodelt und seine giftigen Ausdünstungen auf direktem Weg in das Unterhaus geschickt. Man behauptete, wer diesen Brechreiz verursachenden Geruch einatmete, werde ihn sein Leben lang nicht wieder vergessen. Die zur Themseseite liegenden Fenster des Parlaments wurden mit Tüchern verhängt, die mit einer Chlorkalklösung getränkt waren, aber gegen den bösartigen Geruch vermochte es nichts auszurichten. Der Gestank drang durch die Mörtelritzen und die bemalten Holzvertäfelungen und stieg durch die Keller nach oben. Jemand hatte gesehen, wie der Innenminister aus dem Parlament eilte, die Wangen bleicher als das Taschentuch, das er vor den Mund gepresst hielt. Das Parlament konnte den miserablen Zustand des städtischen Abwassernetzes nicht länger ignorieren. Noch in der Woche vor der Sommerpause wurden Bazalgettes Vorschläge in vollem Umfang genehmigt. Seine Behörde erhielt alle Befugnisse, um unverzüglich zur Tat zu schreiten. Und was das Wichtigste war: Das Parlament genehmigte drei Millionen Pfund, die innerhalb der nächsten vierzig Jahre durch eine sämtlichen Bewohnern Londons auferlegte Sondersteuer wieder hereingeholt werden sollten.
    London würde nie mehr sein wie zuvor.

VIII
    N ach diesem schrecklichen Sommer änderte sich in den Tunneln alles, allerdings nicht gerade zum Besseren. Eine Zeit lang, als die Hitze noch wie eine schmutzige Decke über der Stadt hing, herrschte eine gespenstische Ruhe. Die Menschen waren angespannt, erschöpft, gequält von Durst und der Angst vor der Cholera. Erwachsene Männer brachen auf der Straße zusammen, unfähig, einen Schritt weiterzugehen. Gesunde Kinder erkrankten plötzlich und starben. Tagelang gab es kein Wasser, obwohl für alle Fälle die Schwengelpumpe ununterbrochen entriegelt blieb. Und über allem lag der üble Fäkaliengestank des Flusses, den man so wenig abschütteln konnte wie Läuse. Er schlüpfte durch alle Hemdfasern und drang durch die Poren der Haut. Er setzte sich in Haar und Bart fest, nahm jeden Zoll des Körpers in Besitz, bohrte sich in Ohren, Augen und Nase, so dass man ihn unaufhörlich mit sich herumtrug, ohne ihn je loszuwerden. Vielen Leuten blieb nichts anderes übrig, als aus dem Fluss zu trinken, weil sonst kein Wasser vorhanden war. Es regnete keinen Tropfen.
    Tom und Joe nahmen Lady fast jeden Tag mit in die Tunnel. Dort unten war es zwar auch nicht viel kühler, aber zumindest konnte man atmen, ohne dass einem der Gestank das Frühstück wieder hochkommen ließ. Über dem vertrauten Fäulnisgeruch des Wassers hinweg roch die Luft angenehm nach feuchtem Mauerwerk und Dunkelheit. Die Ratten waren von der Hitze ganz irre und ließen sich wie kleine Kinder in die Käfige dirigieren, aber im Badger liefen die Geschäfte mau. Eine Weile schloss Brassey den Laden sogar ganz; das Wetter, so meinte er, habe sowohl den Männern als auch den Hunden die Lust am Töten vergällt.
    Die Ratten, die sie nicht verkaufen konnten, überließ Tom Lady. Die Hitze schien ihr nichts auszumachen. Sie ging wie immer systematisch vor und lernte schnell. In jenem Sommer brachte Tom ihr alles bei, was er wusste. Er zeigte ihr, an welcher Stelle hinter dem Kopf sie die Ratte packen musste, damit sich ihre Zähne durch die Kehle der Ratte bohrten und sie sie mit

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