Der Vermesser (German Edition)
Schreibtisch setzte und diese Worte las, durchströmte ihn ein stiller Stolz bis zu den Fußsohlen. Jetzt aber verschwammen die Buchstaben vor seinen Augen. Langsam, mit zitternden Knien, stand er auf und machte sich, die Hände in den Taschen vergraben, auf den Weg durch das vertraute Labyrinth von Räumen zu Lovicks großem Büro. Trotz des Feuers, das in den Kaminen knisterte, war es kalt in den schmalen Zimmern, und die Luft kam ihm dünn vor wie auf einem hohen Berg, so dass er nur flach und mühsam atmen konnte. Voller Wehmut blickte er auf die unordentlichen Papierstapel ringsum, die auf den Schreibtisch gesenkten Köpfe, die umherhastenden Schreiber und Boten. Diese Räume würde er nie wieder betreten.
Als William schließlich eingelassen wurde, war Lovick nicht allein. In seiner Gesellschaft befand sich ein kleiner, stämmiger Herr mit rundem, rosigem Gesicht und einer rosa schimmernden Glatze, die von einem feinen Haarflaum umkränzt wurde. In diesem kindlich wirkenden Gesicht sah seine Nickelbrille aus, als hätte er sie sich von einem netten Onkel erbettelt.
»Ah, May.« Lovick hüstelte. Offensichtlich war ihm die Situation peinlich. »Setzen Sie sich, setzen Sie sich.«
William nahm Platz und starrte auf seine Knie. Nun, da er hier war, wollte er das Verhör so schnell wie möglich hinter sich bringen. Die Schande funkelte über seinem gebeugten Nacken wie das Fallbeil einer Guillotine.
»May«, sagte Lovick erneut. »Zuerst einmal möchte ich Ihnen im Namen des Ausschusses für die ausgezeichnete Arbeit danken, die Sie geleistet haben. Das Folgende soll keineswegs bedeuten, dass ich oder Mr. Bazalgette an Ihrer Arbeit irgendetwas auszusetzen hätten.«
William nickte, die Hände zu Fäusten geballt. Wenn es nur schon vorbei wäre, flehte er still. Wenn es nur vorbei wäre.
»Wie Sie wissen, May, wurden Sie uns von Mr. Rawlinson wärmstens empfohlen, einem Gentleman, den ich auf das Höchste schätze. Ich habe an Ihrer Arbeit nichts entdeckt, was der hohen Meinung, die er Ihnen gegenüber hegt, widersprechen würde. Dennoch …«
Jetzt kam es. William stockte der Atem.
»Dennoch sind wir besorgt, dass die … dass die Strapazen Ihrer Tätigkeit Sie erschöpft haben könnten. Das ist Dr. Feather.« Dabei deutete Lovick auf den Herrn am Fenster, der nickte, wodurch sein Körper von den rundlichen Schultern bis hinunter zum Bauch in eine wellenartige Bewegung versetzt wurde. »Ich habe ihn gebeten, Sie zu untersuchen. Und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie ihn dabei nach Kräften unterstützten. Dr. Feather? Ich denke, es ist alles so vorbereitet, wie Sie es gewünscht haben. Sollten Sie Hilfe benötigen, brauchen Sie nur zu rufen.«
Damit erhob sich Lovick und verließ den Raum. Stumm blickte William zu dem Arzt hoch. Für einen Scharfrichter sah er ungewöhnlich sanft aus mit seinem runden Gesicht, das – Zeugnis eines genießerischen Lebenswandels – rosig glänzte und so sehr zum Lächeln aufgelegt war, dass sich auf den Wangen Grübchen gebildet hatten. Diese Fröhlichkeit erschien William wie ein Hohn auf seine erbärmliche Schande. Hinter dieser glitzernden Brille war nichts, worauf er hoffen durfte, nichts als die Gewissheit, dass man ihm Schmerz zufügen wollte. Im Auftrag des Ausschusses würde der Arzt das finden, worum man ihn gebeten hatte. In schwungvoller Handschrift würde aus Hawkes Drohungen ein offizieller Bericht werden. Hawke hatte gesagt, er wisse von den Selbstverstümmelungen. Instinktiv umfasste William die Unterarme und presste die Hemdsärmel auf das versehrte Fleisch. Wenn der Arzt erst einmal die Narben sah, würde seine Diagnose keiner weiteren Begründung mehr bedürfen.
Doch der Arzt wollte sich Williams Arme gar nicht ansehen. Stattdessen setzte er sich auf die Kante von Lovicks Schreibtisch, ließ eines seiner stämmigen Beine unbeholfen baumeln und begann Fragen zu stellen. In den Fragen selbst konnte William kein schlüssiges Muster erkennen – sie reichten von der Bitte um eine genaue Beschreibung seiner täglichen Verrichtungen bis hin zu den Namen der europäischen Hauptstädte, von einer kurzen Schilderung seiner persönlichen Verhältnisse bis zu seiner Meinung über den Aufstand in Indien und der Chronologie der Bücher des Alten Testaments. Auf jede Frage folgte ein langes Schweigen, eine Pause, in welcher der Arzt, die Stirn in dicke Falten gelegt, Williams Antworten abwägte, bevor er sich in einem kleinen ledergebundenen Buch Notizen
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