Der Vermesser (German Edition)
seiner bemächtigt, eine Ruhe, die ihn sowohl erleichterte als auch verblüffte. Er wurde dünn und blass, aber er verzweifelte nicht. Er sah zu, wie Polly immer runder und in ihren Bewegungen langsamer wurde und sich streitbar wie eh und je über die Faulheit des Mädchens beklagte, das ihr im Haus half. Sein Herz machte einen Sprung, als er bemerkte, wie füllig das Haar seines Sohnes geworden war und dass seine Handgelenke, vom Säuglingsspeck befreit, aus den Ärmeln seines Jäckchens herausragten, und er empfand tiefe Scham und stilles Bedauern. Aber die schreckliche Schwärze kam nicht. Zuerst traute er ihrem Fernbleiben nicht, er suchte nach ihr, wie die Zunge nach dem Schmerz tastet, der von einem faulen Zahn ausgeht. Auch früher war es schon vorgekommen, dass die Zeit wie im Flug verrann und die Schwärze tage-, manchmal sogar wochenlang fernblieb. Schließlich war sie dann doch gekommen, dunkler und abartiger, je länger sie ausgeblieben war. Aber noch immer ließ sie auf sich warten. William wagte es kaum zu glauben – vielleicht würde er ausgerechnet in dem Moment, da Hawke seinen Hinterhalt legte, endgültig frei sein.
X
N ur ein Narr hätte etwas auf das Wort eines Mannes wie des Captain gegeben, und Tom war kein Narr. Deshalb nahm er, wann immer es der Wasserstand erlaubte, Lady mit hinunter in die Tunnel. Und wenn abends im Badger ein Rattenkampf stattfand, ging er hin, um im Auge zu behalten, wie es um seine Vereinbarung stand. Er sprach nicht mit dem Captain, anfangs jedenfalls nicht, aber er achtete darauf, dass der andere seine Anwesenheit registrierte. Dabei war es keineswegs so, dass Tom etwas sagte oder tat, um gezielt Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Fürs Erste genügte es, wenn der Captain ihn im Publikum wahrnahm und merkte, dass er dazugehörte, Teil einer fest gefügten Ordnung war, in der Fäuste mehr zählten als feinsinnige Argumente, und die Durchsetzungskraft von Gesetz und Gewissen etwa so groß war wie die Wahrscheinlichkeit, dass die Sonne den Londoner Nebel durchdrang. Eine Ordnung, bei der ein Außenseiter gut daran tat, nichts in Frage zu stellen.
Auch wenn Tom den Schliff und die Bildung eines Gentlemans entbehrte, so war doch sein Geruchssinn scharf wie eh und je. Bald schon sah er sich in ein Gespräch mit den Begleitern des Captain verwickelt, die staunend über den zwischen Tom und dem Captain geschlossenen Handel debattierten. Und wenig später gab der Captain ihnen allen eine Runde aus, um das Geschäft zu besiegeln, und der sonst so wortkarge Tom ließ sich überreden, Geschichten von besonders blutigen Rattenkämpfen zu erzählen, was den Begleitern des Captain Schauder des Entsetzens und der Erregung über den Rücken jagte. Und wiederum ein wenig später, als die ersten Kämpfe vorüber waren und sich die Herrschaften, erschöpft vom Blutrausch und ihrer eigenen Verwegenheit, schwitzend und mit stierem Blick in ihren Stühlen zurücklehnten, ließ sich Tom zu der Bemerkung hinreißen, dass das Leben eines Kanaljägers, tief unten in den Tunneln, an Gefährlichkeit alles in den Schatten stelle, was ein Mensch oben auf der Straße jemals erleben könne.
Sofort wurden die Augen der Gentlemen noch größer, und begierig auf mehr hoffend, beugten sie sich vor.
»Na sicher«, meinte der Captain und entblößte dabei die Zähne. »Ich möchte wetten, dort unten geschieht alles, was man sich an üblen Sachen ausmalen kann. Morde und noch Schlimmeres.«
Tom zuckte die Achseln. »Man erlebt schon ziemlich merkwürdige Dinge.«
»Erzähl uns davon«, forderte ihn der Captain auf, teils schmeichelnd, teils drohend.
»Derlei werden Sie nicht hören wollen«, erwiderte Tom.
»O doch«, insistierte der Captain, blickte auf die gespannten Mienen seiner Begleiter und ließ dabei verlockend die Münzen in seiner Tasche klimpern. »Und ob wir das hören wollen.«
Und so begann Toms einträgliches Geschäft mit Geschichten aus dem Leben eines Kanaljägers. Plötzlich sprudelten aus dem Mann, der sein ganzes Leben nie auch nur eine Silbe zu viel gesprochen hatte, die Worte so ungezwungen und sorglos heraus wie bei einem Marktschreier. Geschichten von Niedertracht und Grausamkeit – genau das, wonach die feinen Herren gierten –, Geschichten, die ihre Augen funkeln ließen und denen sie keuchend und mit offenem Mund lauschten. Und je schauerlicher die Geschichte, umso mehr keuchten sie und umso mehr Münzen glitten aus ihren Taschen. Tom tat ihnen gern den Gefallen.
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