Der Vermesser (German Edition)
Knirschen war zu hören. England stöhnte auf, und zurücktaumelnd ließ er Williams Arm los, um sich das Gesicht zu halten. Blut rann ihm durch die Finger und tropfte in den schmutzigen Schnee, die Augen waren vor Schreck weit aufgerissen. Er blickte um sich, als suchte er jemanden. William wirbelte herum, Schwärze flutete ihm durch die Brust. England wollte sich auf ihn stürzen, aber William war schneller. Die Schwärze raste ihm durch Arme und Beine. Er schlug kräftig mit der Faust in den blutigen Klumpen von Englands Nase, worauf der Fabrikant wankte und mit dem Kopf gegen die Ziegelmauer prallte. Als er zusammensank, trat William ihm in den Magen.
»Wo bist du?«, wimmerte England. »So hilf mir doch, um Himmels willen!«
»Solltest du meiner Familie zu nahe kommen, bring ich dich um«, fauchte William. Die Schwärze drang ihm nun in Nase, Kehle und Ohren. Sie pochte ihm in den Schläfen und füllte den Mund mit kaltem, schwarzem Speichel. Sie legte sich ihm auf die Augen, so dass er den Hof nur mehr als einen schmalen, fahlen Lichtstreifen wahrnahm. »Das ist kein Scherz. Ich bring dich um.«
Ein Zündholz flammte auf und leuchtete orangefarben in dem beschatteten Torweg. William schnellte herum. Er spürte ihn mehr, als dass er ihn sah, den Mann, der sie beide beobachtete. Der Rauch seiner Zigarette kräuselte sich um seine Hutkrempe und stieg auf in die dunkle Nacht. Also ein Türke? Der Mann rührte sich nicht. Das durfte man auch nicht, nicht bis die nächste Wache nah genug war, um sich ihrer Unterstützung sicher zu sein. In diesem Punkt waren die Befehle klar. Es gab bestimmte Worte, die man sagen musste. William spürte, wie ihn Panik erfasste. Er konnte sich nicht mehr an diese Worte erinnern. Verzweifelt wühlte er sich durch die Schwärze in seinem Kopf, aber er konnte sich nicht mehr an diese Worte erinnern.
»Um Himmels willen, Mann«, stöhnte England erneut auf und tastete mit einer Hand in Richtung des Schattens. »Schnapp dir den Dreckskerl!«
William rannte los. Er rannte stolpernd durch den Schnee, rannte auf wackligen, zittrigen Beinen über die gefrorenen Schlammfurchen, durch Gassen und Höfe, hinein in einen Lichtschein und wieder hinaus. Er spürte nichts als den Schmerz der eisigen Luft in der Brust, das mühsame Pochen seines Herzens, das Gewicht seiner Beine – und die Schwärze. Die Schwärze hielt ihn fest umklammert, die Schwärze, die dick war und undurchdringlich, aber gestaltlos wie die nächtliche Finsternis. Wohin er auch lief, überall spürte er die Augen auf sich gerichtet, heiß wie glühende Kohlen. Sie folgten ihm erbarmungslos, aber auch blind, und konnten nicht begreifen, was sie sahen. William wusste das, und so saß er gleichzeitig in der Falle und war doch vollkommen frei. Er musste nur laufen. Und so lief er immer weiter.
Als er stehen blieb, befand er sich im Untergrund. Es kam ihm nicht in den Sinn, sich zu fragen, wie er dorthin gekommen oder wie lange er schon dort war. Die Flut stieg, und er hatte keine Laterne, aber er achtete nicht auf den eisigen Strom von Exkrementen, der seine Beine umwogte, in die gewienerten Stiefel drang und am Wollstoff seiner besten Hose zerrte. Er spürte nur das verzweifelte, betäubende Bedürfnis, sich zu schneiden. Seine rechte Hand ballte sich in der Finsternis, jede Muskelfaser seiner Finger bis zu den Handgelenken schrie nach der vertrauten Gewalt des Messers. Das sengende Verlangen überfiel ihn wie eine ungeheure, mörderische Armee, die ihm ein grausames Bataillon nach dem anderen in den Schädel und zwischen die Rippen trieb, um ihn zu zerfetzen und ihm das Mark aus den Knochen zu reißen. Jeder Zoll seiner Haut prickelte vor Verlangen, jedes winzige Härchen glühte, als stünde es in Flammen. Mit ihren Bajonetten stießen sie ihm jeden seiner flachen Atemzüge in die Kehle zurück, als er mit eiskalten Füßen, die auf dem maroden Untergrund kaum Halt fanden, immer tiefer in die Dunkelheit glitt und stolperte.
Er war nun schon ganz nah, das wusste er, auch wenn er nichts sehen konnte. Das Verlangen wurde unbändig, zog ihm die Haut von Herz und Lunge, bis jeder Atemzug zur Qual wurde und die Brust bebte wie eine Granate kurz vor der Explosion. Es herrschte eine so vollkommene Dunkelheit, dass er nicht einmal mehr die eigenen Hände sehen konnte. William schloss die Augen, presste sie fest zusammen. Mit einem Schlag kippte der Tunnelboden unter ihm weg. Er war fast am Ziel. Vornübergebeugt, steif und
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