Der Vermesser
sich auf knapp sechzig geschätzt, ob-
gleich er noch kräftig war und noch einige Zähne besaß. Er
konnte von Glück sagen, dass er die Ratten hatte. Heutzutage
änderte sich alles so rasant, dass man meinen konnte, jeden Tag
würde eine neue Gemeinheit ersonnen, um den einfachen Leu-
ten das Brot vor der Nase wegzuschnappen.
Beim Anblick der Ratten bekam er jedoch immer noch eine
Gänsehaut, auch nach all den Jahren. Eigentlich seltsam, wenn
man es sich genau überlegte. Oben hatten sie ihn nie gestört.
Dort, wo er herstammte, gehörte ihr ständiges Scharren, ihr Hu-
schen über den Fußboden, das abwechselnde Wachehalten bei
dem Allerkleinsten, wenn es schlief, damit es nicht gebissen oder
verschleppt wurde, ebenso zum Leben wie der Schlamm. Aber
unten in den Tunneln war das anders. Diese Ratten, die sich in
riesigen, wimmelnden Haufen in ihren Höhlen im Mauerwerk
zusammenrotteten, manche so groß wie Hunde, gebärdeten sich
völlig anders. Als wären sie es, die hier das Sagen hatten, und als
würden sie einen nur deshalb vorläufig in Ruhe lassen, weil sie
Besseres zu tun hatten. An manchen Tagen war Tom davon über-
zeugt, dass sie ihn verfolgten, zu Tausenden, auf ihren kalten
Rattenpfoten, die in der Finsternis scharrten, und nur darauf
warteten, dass er stolperte, in die steigenden Fluten fiel oder in
den falschen Tunnel abbog. Ein- oder zweimal hatte er versucht,
eine zu erschlagen, aber sie waren schneller gewesen. Er hatte nie
eine erwischt. Dennoch wusste er, dass sie da waren. Und sobald
er einen Fehler beging, hätten sie ihn. Zuhauf würden sie sich
auf ihn stürzen, ihm Zähne und Klauen ins Fleisch bohren und
ihn bei lebendigem Leib auffressen. Und zwar in null Komma
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nichts. Wenn der Alte ihn finden würde, wäre von ihm nichts
mehr übrig außer ein paar gelben Knochen. Der Alte würde mit
der Zunge schnalzen, den Kopf schütteln und die Knochen in
seine Tasche stecken. Die Leimsiedereien in Bermondsey nah-
men jeden Knochen, den sie kriegen konnten.
Natürlich hatte Tom dem Alten nie davon erzählt. Es war das
Beste, was ihm passiert war, dachte Tom, dass er damals am
Cuckold̕s Point fast ersoffen wäre. Dort hatte man schon Glück,
wenn man im Schlamm auf etwas anderes als auf ein Seil, auf
Knochen oder gelegentlich ein Stück Eisen stieß. Kohlebrocken
waren eine Seltenheit, und fand man einmal eine Münze, konnte
man seinen Dusel kaum fassen. Selbst ein junger Bursche schaff-
te es nur mit Müh und Not, dort sein Auskommen zu finden. Es
war im dritten Winter am Point, als er einsank. Danach konnte
er sich nur noch daran erinnern, wie verblüfft er war, als ihn der
Schlamm nach unten zog und er mit den Füßen vergeblich nach
einem festen Halt suchte. Er hatte sich immer damit gebrüstet,
jede Ecke dort zu kennen, die Abschnitte, wo man bis zu den
Ohren im Schlamm versank, und die Ränder mit festem Unter-
grund direkt daneben, wo man sicher herumspazieren konnte
und der Dreck unter den nackten Füßen härter war als Granit.
Andere Burschen gingen wegen des Rufs, den dieser Ort genoss,
in Gruppen. Nicht so Tom. Es war sein Revier. Der Schlamm
stand ihm schon bis zu den Achselhöhlen, als der Alte ihn ent-
deckte. Tom hatte sich nicht mehr gerührt. Stattdessen hatte er
den Kopf nach hinten in den Schlamm gelegt und in die Luft ge-
starrt. Selbst wenn er nicht noch tiefer eingesunken wäre, hätte
ihn die einlaufende Flut erwischt. Zwei Stunden noch, hatte er
geschätzt und überlegt, ob der Schlamm wohl genauso schmeck-
te, wie er roch.
Nachdem ihn der alte Kanaljäger herausgezogen hatte, arbei-
teten sie zusammen, bis der Alte starb. Abgesehen von den Rat-
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ten gefiel Tom diese Arbeit recht gut. Der Gestank in den Kanä-
len störte ihn nicht. Zuerst fand er ihn etwas unangenehm, aber
bei weitem nicht so schlimm, wie die anderen erzählt hatten,
wohl deshalb, weil er an den Fluss gewöhnt war. Der alte Kanal-
jäger hatte ihn ins Herz geschlossen und war freundlich gewe-
sen. Er hatte zwar die Ausbeute nicht immer so gerecht geteilt,
wie Tom es gefallen hätte, aber er brachte ihm alles über die Tun-
nel bei, bis Tom sie so gut kannte wie die Gassen von St. Giles.
Der Alte schätzte, dass es circa anderthalbtausend Kilometer
wären, wenn man sämtliche Abwasserkanäle Londons ablaufen
würde, aber sie selbst beschränkten sich aufs Zentrum, wo die
Ausbeute am größten war. In den offenen Kloaken am
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