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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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sich auf knapp sechzig geschätzt, ob-
    gleich er noch kräftig war und noch einige Zähne besaß. Er
    konnte von Glück sagen, dass er die Ratten hatte. Heutzutage
    änderte sich alles so rasant, dass man meinen konnte, jeden Tag
    würde eine neue Gemeinheit ersonnen, um den einfachen Leu-
    ten das Brot vor der Nase wegzuschnappen.
    Beim Anblick der Ratten bekam er jedoch immer noch eine
    Gänsehaut, auch nach all den Jahren. Eigentlich seltsam, wenn
    man es sich genau überlegte. Oben hatten sie ihn nie gestört.
    Dort, wo er herstammte, gehörte ihr ständiges Scharren, ihr Hu-
    schen über den Fußboden, das abwechselnde Wachehalten bei
    dem Allerkleinsten, wenn es schlief, damit es nicht gebissen oder
    verschleppt wurde, ebenso zum Leben wie der Schlamm. Aber
    unten in den Tunneln war das anders. Diese Ratten, die sich in
    riesigen, wimmelnden Haufen in ihren Höhlen im Mauerwerk
    zusammenrotteten, manche so groß wie Hunde, gebärdeten sich
    völlig anders. Als wären sie es, die hier das Sagen hatten, und als
    würden sie einen nur deshalb vorläufig in Ruhe lassen, weil sie
    Besseres zu tun hatten. An manchen Tagen war Tom davon über-
    zeugt, dass sie ihn verfolgten, zu Tausenden, auf ihren kalten
    Rattenpfoten, die in der Finsternis scharrten, und nur darauf
    warteten, dass er stolperte, in die steigenden Fluten fiel oder in
    den falschen Tunnel abbog. Ein- oder zweimal hatte er versucht,
    eine zu erschlagen, aber sie waren schneller gewesen. Er hatte nie
    eine erwischt. Dennoch wusste er, dass sie da waren. Und sobald
    er einen Fehler beging, hätten sie ihn. Zuhauf würden sie sich
    auf ihn stürzen, ihm Zähne und Klauen ins Fleisch bohren und
    ihn bei lebendigem Leib auffressen. Und zwar in null Komma

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    nichts. Wenn der Alte ihn finden würde, wäre von ihm nichts
    mehr übrig außer ein paar gelben Knochen. Der Alte würde mit
    der Zunge schnalzen, den Kopf schütteln und die Knochen in
    seine Tasche stecken. Die Leimsiedereien in Bermondsey nah-
    men jeden Knochen, den sie kriegen konnten.
    Natürlich hatte Tom dem Alten nie davon erzählt. Es war das
    Beste, was ihm passiert war, dachte Tom, dass er damals am
    Cuckold̕s Point fast ersoffen wäre. Dort hatte man schon Glück,
    wenn man im Schlamm auf etwas anderes als auf ein Seil, auf
    Knochen oder gelegentlich ein Stück Eisen stieß. Kohlebrocken
    waren eine Seltenheit, und fand man einmal eine Münze, konnte
    man seinen Dusel kaum fassen. Selbst ein junger Bursche schaff-
    te es nur mit Müh und Not, dort sein Auskommen zu finden. Es
    war im dritten Winter am Point, als er einsank. Danach konnte
    er sich nur noch daran erinnern, wie verblüfft er war, als ihn der
    Schlamm nach unten zog und er mit den Füßen vergeblich nach
    einem festen Halt suchte. Er hatte sich immer damit gebrüstet,
    jede Ecke dort zu kennen, die Abschnitte, wo man bis zu den
    Ohren im Schlamm versank, und die Ränder mit festem Unter-
    grund direkt daneben, wo man sicher herumspazieren konnte
    und der Dreck unter den nackten Füßen härter war als Granit.
    Andere Burschen gingen wegen des Rufs, den dieser Ort genoss,
    in Gruppen. Nicht so Tom. Es war sein Revier. Der Schlamm
    stand ihm schon bis zu den Achselhöhlen, als der Alte ihn ent-
    deckte. Tom hatte sich nicht mehr gerührt. Stattdessen hatte er
    den Kopf nach hinten in den Schlamm gelegt und in die Luft ge-
    starrt. Selbst wenn er nicht noch tiefer eingesunken wäre, hätte
    ihn die einlaufende Flut erwischt. Zwei Stunden noch, hatte er
    geschätzt und überlegt, ob der Schlamm wohl genauso schmeck-
    te, wie er roch.
    Nachdem ihn der alte Kanaljäger herausgezogen hatte, arbei-
    teten sie zusammen, bis der Alte starb. Abgesehen von den Rat-

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    ten gefiel Tom diese Arbeit recht gut. Der Gestank in den Kanä-
    len störte ihn nicht. Zuerst fand er ihn etwas unangenehm, aber
    bei weitem nicht so schlimm, wie die anderen erzählt hatten,
    wohl deshalb, weil er an den Fluss gewöhnt war. Der alte Kanal-
    jäger hatte ihn ins Herz geschlossen und war freundlich gewe-
    sen. Er hatte zwar die Ausbeute nicht immer so gerecht geteilt,
    wie Tom es gefallen hätte, aber er brachte ihm alles über die Tun-
    nel bei, bis Tom sie so gut kannte wie die Gassen von St. Giles.
    Der Alte schätzte, dass es circa anderthalbtausend Kilometer
    wären, wenn man sämtliche Abwasserkanäle Londons ablaufen
    würde, aber sie selbst beschränkten sich aufs Zentrum, wo die
    Ausbeute am größten war. In den offenen Kloaken am

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