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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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erklärungs-
    bedürftig, aber bei Joe begriff man sofort, weshalb sie ihn den
    Roten nannten. Wenn er seinen Hut absetzte, was beileibe nicht
    oft vorkam, sprang sein Haar in einer wahren Explosion von Rot-
    braun auf. Stellte man sich das Leben als ein Seil vor, so musste

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    man zugeben, dass sich Joe, genau wie Tom, bereits beträchtlich
    näher am Seilende befand als am Anfang, aber dennoch hatte er
    nur eine einzige weiße Strähne, die das leuchtende Rot auf sei-
    nem Kopf ein wenig dämpfte. Kein Ruß, kein Schmutz, nicht ein-
    mal der verdreckteste Kanal schaffte es, dieses Feuer zu löschen.
    Sein Haar mochte steif und verfilzt sein, aber sobald es auch nur
    den leisesten Lichtstrahl einfing, glomm es wie ein Kohlenbe-
    cken, so dass man fast versucht war, sich die Hände daran zu wär-
    men. Über seinen blassen Augen wucherten die Brauen daumen-
    dick wie flammend rote Raupen, und unter den schimmernden
    Härchen auf seinen Armen war die Haut mit kupferfarbenen
    Sommersprossen übersät. Draußen auf den Hauptstraßen fun-
    kelte das Messing an den großen Häusern, das Geschirr der
    Pferde, das Gaslicht in den Auslagen der Geschäfte und das Son-
    nenlicht, das sich an den polierten Scheiben brach, aber hier in-
    mitten der Mietskasernen schimmerte nichts so prächtig wie Joe.
    Neben ihm, überlegte Tom, sah er selbst aus wie einer, der gerade
    aus einem Haufen Staub und Asche gekrochen war.
    »Ziehen wir los?«
    Tom nickte. Joe überragte ihn fast um einen Kopf, und wäh-
    rend Tom schlank war, hatte Joe mit seinen prallen Schenkeln
    Kraft wie ein Bulle. Mühelos hievte er sich zwei Käfige auf seine
    breiten Schultern, während Tom die Laterne an seiner Hacke be-
    festigte und sich vergewisserte, dass in der Geheimtasche seiner
    Schürze die Handschuhe steckten. Das Fell der Kanalratten war
    giftig, und wenn man sie packte, wanden sie sich und zappelten
    wie Straßenjungen, kreischten und bissen mit ihren gelben Zäh-
    nen um sich. Man versuchte zu verhindern, sich beißen zu las-
    sen. Ein Rattenbiss hinterließ eine dreieckige Wunde – wie bei
    einem Blutegel, nur tiefer –, die gehörig blutete. Einmal hatte
    Tom gesehen, wie ein Mann eine Ratte am Schwanz herum-
    schlenkerte, mehr aus Angeberei als sonst einem Grund, und be-

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    vor er sich̕s versah, schnellte das Vieh herum und biss ihn in den
    Arm. Am nächsten Tag war der Arm dick wie ein Schinken und
    schwarz wie ein Stiefel. Tom wusste nicht, was aus dem Mann
    geworden war. Er hatte ihn nie mehr wiedergesehen.
    Einen kurzen dicken Knüppel in der Rechten und die Hacke
    in der Linken, ging Tom auf dem glitschigen Kellerboden vo-
    raus. Das Haus hatte einmal eine Senkgrube besessen, deshalb
    führte der Keller in einen kleinen offenen Abwasserkanal. In
    besseren Gegenden wäre dieser Kanal aus Backstein gemauert
    gewesen, mit einer so niedrigen Decke, dass nicht einmal ein
    Kind hätte stehen können, aber unter dem morschen Füllwerk
    der Mietskasernen war er weitgehend offen. Die Holzdecke war
    gleichzeitig der Fußboden in den Zimmern darüber, und weil
    darin immer wieder Planken fehlten, konnte man, wenn man
    hochsah, in die leeren Augen der Frauen und Kinder blicken, die
    auf dem Boden hockten. Meistens waren die Holzplanken so
    durchlöchert, dass man auf dem Weg durch den Tunnel Ge-
    räuschfetzen aus dem Leben von Hunderten Familien auf-
    schnappte: Gekreische, Schreie, Schnarchen. An manchen Stel-
    len hingen schmutzverkrustete Strohbüschel und Lumpen herab
    und streiften einen am Hut. Einmal hatte Joe an einer solchen
    Stelle angehalten und gelauscht. Er hatte Tom zugezwinkert und
    dann mit einer tiefen Stimme losgedonnert, als wäre er der Teu-
    fel höchstpersönlich: »Glaubst du, ich sehe dich nicht, wo du
    schon mit einem Bein in der Hölle stehst?« Der Aufschrei und die
    hastigen Bewegungen, die daraufhin zu hören waren, hätten
    selbst eine Ratte erbarmt. Tom fürchtete fast, Joe würde ersti-
    cken, so schüttelte er sich vor Lachen.
    Nach etwa einem halben Kilometer fiel der Tunnel in einer
    riesigen Stufe hinab und ging in einen breiteren Abwasserkanal
    aus Backstein über. Tom und Joe ließen sich hinuntergleiten und
    wateten Richtung Osten weiter. Auf diesem Untergrund war es

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    einfacher voranzukommen, aber von Zeit zu Zeit mussten sie an
    den Eisengittern, die nach oben führten, anhalten, um ihre La-
    ternen abzublenden. Sie sprachen kein Wort. Bereits vorher hat-
    ten sie sich darauf verständigt, Newgate

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