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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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als früher. In manche
    Abwasserkanäle stiegen die Ausspüler zwei- bis dreimal im Mo-
    nat und spülten Wasser durch die Tunnel, um sie von Dreck und
    Schlamm zu säubern, Joe meinte, sie wollten damit nur recht-
    schaffene Männer in den Ruin treiben, weil dadurch die im
    Schlamm verborgenen Schätze geradewegs ins Meer befördert
    wurden, aber Tom wusste, dass es wegen der Cholera war. Die
    Cholera war durch die Stadt gezogen wie Faulgas. Das Fieber
    überfiel einen so plötzlich, dass manch einer, der sich beim
    Frühstück noch prächtig gefühlt hatte, zur Mittagszeit schon
    mausetot war. Bald hatte der Platz nicht mehr gereicht, um die
    Leichen zu begraben, und es gab auch nicht mehr genügend To-
    tengräber, so viele Leute kamen um. Manchmal sah man Haufen

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    von Leichen, die Augen aufgerissen, auf Karren vor den Fried-
    höfen aufeinander geschichtet, wo sie warten mussten, bis die
    Reihe an ihnen war. Damals hatten die Ärzte der Regierung er-
    klärt, es sei der Gestank aus den Kanälen, der die Leute um-
    bringe, und so wurden umgehend die neuen Maßnahmen be-
    schlossen. Von da an spülte man die Kanäle öfter aus. Wenn die
    Leute über ein Kanalgitter liefen oder an den Stellen vorbeika-
    men, wo die Kanäle in die Themse mündeten, hielten sie die Luft
    an. Aber sie starben trotzdem. Zuweilen ganze Familien, mit
    Kind und Kegel, so dass es niemanden mehr gab, der wenigstens
    noch zur Pumpe hätte gehen können, um einen Schluck Wasser
    zu holen. Am besten dachte man nicht darüber nach. Wenn man
    zu viel grübelte, war man selbst womöglich der Nächste.
    Jetzt war im Parlament die Rede davon, das ganze Abwasser-
    netz von Grund auf zu erneuern. Tom hätte es nicht geglaubt,
    wenn er es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, aber in den
    letzten Monaten hatten immer wieder feine Herren ihre seide-
    nen Hüte und glänzenden Schuhe mit den ledernen Mützen und
    den hohen Schaftstiefeln von Tunnelarbeitern vertauscht und
    waren zusammen mit Ausspülertrupps in die Kanalisation ge-
    stiegen. Die Gentlemen blieben zwar nur ein, zwei Stunden un-
    ten, aber sie marschierten in die Tunnel hinein wie Forschungs-
    reisende, die sich in ferne Erdteile begeben, und ihre Führer
    waren schwer beladen mit Laternen, Mappen und zahllosen In-
    strumenten zum Messen und Inspizieren und was auch immer.
    Es war leicht festzustellen, wenn ein solcher Trupp unten war,
    denn sie postierten oben auf der Straße entlang ihrer Route eine
    Reihe von Leuten, die sie warnen sollten, falls Regen einsetzte.
    Manchmal hörte Tom den Widerhall eines in der Ferne klap-
    pernden Kanaldeckels, mit dem signalisiert wurde, dass es Zeit
    war rauszusteigen. Ein- oder zweimal war Tom selbst dieser
    Warnung gefolgt, aber es wäre nicht nötig gewesen. Vielleicht,

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    hatte Joe zwinkernd gemeint, mochten es die feinen Herren
    nicht so gern, wenn ihnen Wasser über ihre empfindlichen wei-
    ßen Knöchel lief. Eilig hatten sie es jedenfalls nicht mit der
    Sache, so viel stand fest. Bisher hatten sie nicht mehr als einen
    einzigen neuen Abwasserkanal unter der neuen Victoria Street
    zustande gebracht, der von der Holborn Bridge aus nach Norden
    verlief. Er war kaum länger als dreißig Meter, und es hatte über
    ein Jahr gedauert, bis er fertig war. Bei diesem Tempo wäre Tom
    längst unter der Erde, ehe sie es bis hinauf nach Clerkenwell ge-
    schafft hätten.
    Trotzdem, man musste auf der Hut sein. Vom Richter konnte
    man nicht viel Gnade erwarten, wenn man erwischt wurde, wie
    man unter dem Old Bailey mit ein paar feinen Pinkeln zusam-
    mengestoßen war. Es wäre die Strafe durchaus wert, hatte Joe
    kichernd gemeint, und sei es auch nur, um einmal zu erleben,
    was für ein Gesicht diese Stutzer machten, wenn sie beide wie
    Gespenster aus der Dunkelheit auftauchten. Tom hatte nicht
    gelacht. Joe wusste nicht, wovon er sprach. Er hatte noch nicht
    gesessen. Tom schon. Und er hatte kein Verlangen danach, das
    noch einmal zu erleben.
    Über Toms Kopf scharrte die Tür ein wenig über den moras-
    tigen Boden. Tom pfiff leise, und als Antwort kam ein Echo zu-
    rück, gefolgt von dem Poltern der Stiefel auf der Treppe.
    »Na also«, murmelte Joe und hob die Laterne in Kopfhöhe.
    Das plötzlich aufscheinende Licht ließ die beiden Büschel seines
    Backenbarts leuchten, als stünden sie in Flammen. Es war Tradi-
    tion, einem Kanaljäger einen Spitznamen zu geben, so wollte es
    der Brauch. Manche der Bezeichnungen waren zwar

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