Der Vermesser
als früher. In manche
Abwasserkanäle stiegen die Ausspüler zwei- bis dreimal im Mo-
nat und spülten Wasser durch die Tunnel, um sie von Dreck und
Schlamm zu säubern, Joe meinte, sie wollten damit nur recht-
schaffene Männer in den Ruin treiben, weil dadurch die im
Schlamm verborgenen Schätze geradewegs ins Meer befördert
wurden, aber Tom wusste, dass es wegen der Cholera war. Die
Cholera war durch die Stadt gezogen wie Faulgas. Das Fieber
überfiel einen so plötzlich, dass manch einer, der sich beim
Frühstück noch prächtig gefühlt hatte, zur Mittagszeit schon
mausetot war. Bald hatte der Platz nicht mehr gereicht, um die
Leichen zu begraben, und es gab auch nicht mehr genügend To-
tengräber, so viele Leute kamen um. Manchmal sah man Haufen
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von Leichen, die Augen aufgerissen, auf Karren vor den Fried-
höfen aufeinander geschichtet, wo sie warten mussten, bis die
Reihe an ihnen war. Damals hatten die Ärzte der Regierung er-
klärt, es sei der Gestank aus den Kanälen, der die Leute um-
bringe, und so wurden umgehend die neuen Maßnahmen be-
schlossen. Von da an spülte man die Kanäle öfter aus. Wenn die
Leute über ein Kanalgitter liefen oder an den Stellen vorbeika-
men, wo die Kanäle in die Themse mündeten, hielten sie die Luft
an. Aber sie starben trotzdem. Zuweilen ganze Familien, mit
Kind und Kegel, so dass es niemanden mehr gab, der wenigstens
noch zur Pumpe hätte gehen können, um einen Schluck Wasser
zu holen. Am besten dachte man nicht darüber nach. Wenn man
zu viel grübelte, war man selbst womöglich der Nächste.
Jetzt war im Parlament die Rede davon, das ganze Abwasser-
netz von Grund auf zu erneuern. Tom hätte es nicht geglaubt,
wenn er es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, aber in den
letzten Monaten hatten immer wieder feine Herren ihre seide-
nen Hüte und glänzenden Schuhe mit den ledernen Mützen und
den hohen Schaftstiefeln von Tunnelarbeitern vertauscht und
waren zusammen mit Ausspülertrupps in die Kanalisation ge-
stiegen. Die Gentlemen blieben zwar nur ein, zwei Stunden un-
ten, aber sie marschierten in die Tunnel hinein wie Forschungs-
reisende, die sich in ferne Erdteile begeben, und ihre Führer
waren schwer beladen mit Laternen, Mappen und zahllosen In-
strumenten zum Messen und Inspizieren und was auch immer.
Es war leicht festzustellen, wenn ein solcher Trupp unten war,
denn sie postierten oben auf der Straße entlang ihrer Route eine
Reihe von Leuten, die sie warnen sollten, falls Regen einsetzte.
Manchmal hörte Tom den Widerhall eines in der Ferne klap-
pernden Kanaldeckels, mit dem signalisiert wurde, dass es Zeit
war rauszusteigen. Ein- oder zweimal war Tom selbst dieser
Warnung gefolgt, aber es wäre nicht nötig gewesen. Vielleicht,
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hatte Joe zwinkernd gemeint, mochten es die feinen Herren
nicht so gern, wenn ihnen Wasser über ihre empfindlichen wei-
ßen Knöchel lief. Eilig hatten sie es jedenfalls nicht mit der
Sache, so viel stand fest. Bisher hatten sie nicht mehr als einen
einzigen neuen Abwasserkanal unter der neuen Victoria Street
zustande gebracht, der von der Holborn Bridge aus nach Norden
verlief. Er war kaum länger als dreißig Meter, und es hatte über
ein Jahr gedauert, bis er fertig war. Bei diesem Tempo wäre Tom
längst unter der Erde, ehe sie es bis hinauf nach Clerkenwell ge-
schafft hätten.
Trotzdem, man musste auf der Hut sein. Vom Richter konnte
man nicht viel Gnade erwarten, wenn man erwischt wurde, wie
man unter dem Old Bailey mit ein paar feinen Pinkeln zusam-
mengestoßen war. Es wäre die Strafe durchaus wert, hatte Joe
kichernd gemeint, und sei es auch nur, um einmal zu erleben,
was für ein Gesicht diese Stutzer machten, wenn sie beide wie
Gespenster aus der Dunkelheit auftauchten. Tom hatte nicht
gelacht. Joe wusste nicht, wovon er sprach. Er hatte noch nicht
gesessen. Tom schon. Und er hatte kein Verlangen danach, das
noch einmal zu erleben.
Über Toms Kopf scharrte die Tür ein wenig über den moras-
tigen Boden. Tom pfiff leise, und als Antwort kam ein Echo zu-
rück, gefolgt von dem Poltern der Stiefel auf der Treppe.
»Na also«, murmelte Joe und hob die Laterne in Kopfhöhe.
Das plötzlich aufscheinende Licht ließ die beiden Büschel seines
Backenbarts leuchten, als stünden sie in Flammen. Es war Tradi-
tion, einem Kanaljäger einen Spitznamen zu geben, so wollte es
der Brauch. Manche der Bezeichnungen waren zwar
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