Der Vermesser
Stadtrand
fand man bestenfalls Brunnenkresse. Auch der Süden war nicht
so ergiebig. Unter den Zuckerbäckereien strömte Wasser heiß
wie Dampf aus einem Kessel in die Kanäle, so dass man dort ris-
kierte, bei lebendigem Leib gekocht zu werden. Unter den Gas-
werken war es noch schlimmer, laut Gesetz durften dort die Ka-
näle überhaupt nicht betreten werden. Es hieß, unter der Gas–,
Licht- und Koksgesellschaft könne man in Brand geraten, bevor
man wusste, wie einem geschah. Tom war nie dort gewesen.
Überhaupt hatte er nur ein einziges Mal gesehen, wie das Gas
zuschlug, als jemand vor ihm eine Wolke davon abbekam, wo-
rauf sich alle auf den Boden warfen, um nicht auch erwischt zu
werden. Er hatte das nie vergessen. Das lodernde Gas war wie ein
Feuerwerk über sie hinweggezischt, eine prächtige Flamme oben
am Gewölbe. Es hatte wunderschön ausgesehen.
Am liebsten waren Tom die Kanäle unter Mayfair und Belgra-
via. Es bereitete ihm eine gewisse Genugtuung, dass unter den
feinsten Häusern der Stadt die Abwasserkanäle so schäbig waren
wie nirgendwo sonst in London. Unter den schneeweißen, frisch
verputzten Gebäuden am Belgrave Square bröckelte das Mauer-
werk dermaßen, dass jeder Versuch, die Kanäle zu reinigen, un-
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weigerlich zu ihrem Einsturz geführt hätte. Neben zerbeulten
Töpfen, Lumpen und Steingutscherben gab es dort immer ir-
gendwelche Schätze zu finden. Der junge Tom konnte in Spalten
schlüpfen, die für den Alten zu eng waren, und wenn sie zu
einem Einstiegsgitter an der Straße kamen, legte er sich in den
Schlamm und tastete den Boden der Kloake ab. Die große Reich-
weite seiner Arme hatte ihm seinen Spitznamen eingetragen. In
der Regel fand er Münzen – Pennys, oft auch Shillings und halbe
Kronen. Außerdem Metalllöffel, Tabakdosen, Nägel und Na-
deln, Bleiklumpen, Murmeln und Knöpfe. Einmal sogar einen
silbernen Krug, groß wie ein Kochtopf. Diesen u
F nd hatten sie
in jener Nacht ordentlich gefeiert.
Es waren die ruhmreichen Zeiten gewesen, als die Kanaljäge-
rei noch ein Gewerbe war, das der Vater an den Sohn vererbte.
Damals waren die Abwasserkanäle zur Themse hin noch offen
gewesen, so dass bei Ebbe jeder frech hineinspazieren konnte.
Doch damit war schon seit Jahren Schluss. Inzwischen waren die
Rundbogen-Ausgänge mit Backstein verstärkt und mit eisernen
Toren versehen, die sich entsprechend den Gezeiten öffneten und
schlossen. So sollte sichergestellt sein, dass das Abwasser zwar
abfloss, aber niemand hineinkam. Für einige Kanaljäger war es
das Aus. Die Tore waren tückisch, und einen anderen Weg ins In-
nere kannten sie nicht. Natürlich gab es Burschen, die sich einen
Spaß daraus machten, sich an die Tore zu hängen, wenn das
Wasser sie hoch genug gespült hatte, um hindurchzuschlüpfen,
aber das Wasser schoss so schnell dahin, dass es einem die Beine
wegzog. Tom hielt nichts von dieser Methode. Es hatte immer
andere, sicherere Einstiegsstellen gegeben, wobei er es nicht eilig
hatte, den anderen davon zu erzählen. Vor langer Zeit hatte ihm
der Alte seine geheime Karte der Schächte und Gullys gezeigt,
von denen manche gelegentlich von den Ausspülern benutzt wur-
den und andere so alt und abgelegen waren, dass wahrscheinlich
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niemand außer ihm und Joe überhaupt von ihrer Existenz
wusste. Die meisten konnte man nur nach Einbruch der Dunkel-
heit benutzen. Es hätte Verdacht erregt, wenn einen jemand
beim Einsteigen gesehen hätte. Sie hatten sie jedenfalls schon be-
nutzt, noch bevor am Themseufer die Tore angebracht wurden.
Es ging darum, dass man in den acht, neun Stunden, die einem
die Gezeiten ließen, möglichst weit kam, und es hatte keinen
Sinn, immer vom Fluss aus zu beginnen, nicht, wenn man mehr
wollte als anderer Leute Ausscheidungen. Außerdem gab es Tage,
an denen man trotz allem vom Regen überrascht wurde. Dann
musste man in der Lage sein, möglichst schnell wieder heraus-
zukommen.
Neuerdings wurden weitere Gitter und Schächte zum Einstei-
gen eingebaut. Manche dienten zur Entlüftung, andere als eisen-
vergitterter Rauchabzug, versehen mit ins Mauerwerk eingelasse-
nen Stiften, die man als Leiter benutzen konnte. Normalerweise
waren sie zwar abgesperrt, aber man bekam sie auf, wenn man
wusste, wie. Auch vergaßen die Ausspüler manchmal, sie wieder
zu verriegeln, oder vielleicht machten sie es sich einfach, weil sie
jetzt viel öfter nach unten klettern mussten
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