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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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er fast zwei
    Wochen in Russland gewesen war, bestürzte ihn der erbärm-
    liche Zustand der Männer, denen er hier begegnete. Dieser nun
    war ein besonders trauriges Exemplar. Er war so ausgemergelt,
    dass seine Knochen weiß durch die Gesichtshaut zu schimmern
    schienen, und er verströmte den säuerlichen Geruch von Krank-
    heit und Verwahrlosung. Nach allem, was Rawlinson über die in
    den Lazaretten herrschenden Zustände wusste, konnte sich die-
    ser Mann glücklich schätzen, wenn er mehr als einmal in den
    vier Monaten hier in Skutari ein Bad gesehen hatte. Sein Uni-
    formrock hing ihm in Fetzen von den knochigen Schultern,
    und das rotblonde Kopf- und Barthaar umrahmte in schmutzi-
    gen Büscheln sein Gesicht. Er sah aus, dachte Rawlinson, wie ein
    Löwe, den man zu lange eingesperrt hatte. Der gestrenge Haupt-
    mann neben ihm in seinem scharlachroten Rock fügte sich nur
    ungern in die Rolle des Wärters. Gewiss wäre ihm ein anderes
    Tier lieber, eines, das seiner untadeligen militärischen Haltung
    mehr entspräche, ein prächtiger Araberhengst vielleicht oder ein
    Bengalischer Tiger.
    »Gefreiter May«, sagte Rawlinson und verkniff sich dabei ein
    vertrauensvolles Lächeln, »Sie waren, wie ich höre, in London
    im Vermessungswesen tätig.«

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    Er blickte May erwartungsvoll an. Als der Gefreite nicht ant-
    wortete, räusperte sich der Hauptmann lautstark, um ihm so-
    dann den Ellbogen in die Rippen zu stoßen. Langsam blickte
    May auf, blinzelte, als wäre der düstere Raum blendend hell er-
    leuchtet, und fingerte mit seinen schmutzigen Händen an dem
    einzig verbliebenen Knopf seiner Jacke herum. Rawlinson schalt
    sich insgeheim selbst, dass es ihn unwillkürlich schüttelte vor
    Ekel.
    »Nun?«, fragte Rawlinson in barscherem Ton, als es seine Ab-
    sicht war. »Sprechen Sie, Mann.«
    »Jawohl, Sir«, murmelte May. »Ich war im Vermessungsamt.«
    »Man sagte mir, Ihre Gruppe sei zuständig gewesen für die
    Kartographierung der Londoner Abwasserkanäle, die vom Ers-
    ten Ausschuss des Amts für öffentliche Bauvorhaben angeordnet
    wurde. Im Maßstab eins zu eintausend, das ist doch richtig,
    oder?« Rawlinson blickte den Soldaten eindringlich an. Er schien
    zu wanken, und der einzige Farbton in seinem fahlen Gesicht
    waren die dunkelvioletten Flecken unter den Augen. »Geht es
    Ihnen gut?«
    May hob sein Löwenhaupt und sah sein Gegenüber an. Seine
    sandbraunen Augen mit ihrem weder freundlichen noch feind-
    seligen Ausdruck schienen nicht auf Rawlinson und auch nicht
    auf die Wand hinter ihm gerichtet zu sein, sondern auf etwas in
    seinem Innern. Rawlinson beschlich das eigentümliche Gefühl,
    nicht in ein Aug n
    e paar zu blicken, sondern auf die farblose
    Rückseite der Iris.
    »Gefreiter May?«
    »Nein, Sir«, murmelte May schließlich. »Nicht so ganz, Sir.«
    Der Hauptmann neben May erlaubte sich, vernehmlich Luft
    zu holen, und presste unter den Enden seines gewachsten
    Schnurrbarts die Lippen zusammen. Ohne ihn weiter zu beach-
    ten, lehnte sich Rawlinson in seinem Stuhl zurück, verschränkte

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    die Finger ineinander und musterte May eingehend. Aus den
    Dokumenten auf seinem Schreibtisch ging hervor, dass dieser
    Soldat in Inkerman für seine Tapferkeit ausgezeichnet worden
    war. Der Korrespondent der Times hatte Inkerman als die blu-
    tigste Schlacht bezeichnet, die jemals geschlagen wurde, seit der
    Fluch des Krieges die Erde heimsuchte. Rawlinson hatte den Be-
    richt darüber beim Frühstück am Portland Square gelesen; er
    konnte sich noch gut daran erinnern.
    »Nein«, stimmte er zu, und seine klugen grauen Augen blick-
    ten unverwandt auf das Gesicht des Mannes. »Nicht so ganz. Ich
    sehe es.« Er legte nachdenklich eine Pause ein. »Aber geht es Ih-
    nen gut genug, um arbeiten zu können? Ich brauche dringend
    einen Vermesser. Sie würden morgen anfangen.«
    Mays Atem beschleunigte sich, und er fingerte noch nervöser
    an dem Jackenknopf herum. Dann fuhr er sich mit der Zungen-
    spitze über die ausgetrockneten Lippen. »Ich wäre Ihnen nicht
    von Nutzen, Sir«, stotterte er. »Ich ... ich ... Sie werden jemand
    anderen finden. Jemand, der besser geeignet ist. Ganz gewiss, Sir.«
    Durch das Gezerre an dem Knopf riss schließlich der ausgelei-
    erte Faden, der ihn am Stoff gehalten hatte. May starrte auf den
    Knopf in seiner Hand, das Gesicht vor Kummer verzerrt.
    Einen Augenblick zögerte Rawlinson, dann beugte er sich vor,
    die Ellbogen auf den Mahagonischreibtisch gestützt.

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