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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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Kauderwelsch heraus. Obwohl
    geschwächt, neigte er zu Gewalttätigkeiten; nachdem sein Arzt
    nur knapp einem Faustschlag von William entgangen war, band
    ihm der ebenso erzürnte wie entnervte Mann mit einem Seil die
    Hände zusammen. Solcherart gefesselt, trat William den langen
    Transport nach Skutari an. Bei seiner Ankunft im Lazarett hatte

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    er die Kleidung seit vier Wochen nicht mehr gewechselt. Als
    die Krankenschwester das zerlumpte Tuch entfernte, das seine
    Bauchwunde e
    b
    c
    de kte, musste sie erst eine Hand voll Maden
    entfernen, bevor sie einen neuen Verband anlegen konnte.
    Die Wunden an Brust und Bauch verheilten erstaunlich gut,
    dennoch blieb William so schwach, dass er weder stehen noch
    selbstständig essen konnte. Immer wieder peinigten ihn Alb-
    träume, die zu anfallartigen Krämpfen führten. In seinem ge-
    quälten Schlaf kratzte er sich mit den Fingernägeln die Haut bis
    aufs Fleisch auf und biss sich die Lippen wund und schrundig.
    Die Krankenschwestern und anderen Patienten begriffen schnell,
    dass sie sich ihm nur vorsichtig nähern durften, da es nicht selten
    vorkam, dass er bei einem unerwarteten Geräusch oder einer Be-
    rührung wild um sich schlug. Einmal verpasste er einem frisch
    eingelieferten Soldaten der Zweiten Kompanie mit einem Faust-
    schlag ein blaues Auge, nur um sich danach verzweifelt an ihn zu
    klammern und um Verzeihung zu flehen, weinend den Kopf in
    die zerlumpte Uniform des Mannes gegraben. Da die Soldaten
    bei den eisigen Temperaturen in Balaklawa wie die Fliegen star-
    ben und somit Ersatz dringend geboten war, kam man nur wi-
    derstrebend zu dem Entschluss, dass der Gefreite May noch nicht
    an die Front zurückkehren konnte. Stattdessen wurde ihm »leich-
    tes Fieber« attestiert, und kurz vor dem Eintreffen der Kommis-
    sion verlegte man ihn auf eines der beiden Genesungsschiffe, die
    im Hafen vertäut waren. Später sollte es in Rawlinsons Bericht
    heißen, dass man sich keinen schlimmeren Ort vorstellen könne,
    um die Gesundheit eines Menschen wiederherzustellen. Beide
    Schiffe – ehemalige türkische Kriegsschiffe, die sich in einem be-
    klagenswerten Zustand befanden – waren so überbelegt, dass sich
    Fieber und Schmutz ungehindert ausbreiteten. Das Hafenbe-
    cken, in dem sie dümpelten, wurde von ihren Abwässern in eine
    offene Kloake verwandelt.

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    Ärzte ließen sich auf den Genesungsschiffen nur selten bli-
    cken. Die meiste Zeit lag William reglos auf seinem Strohsack. Er
    war nicht mehr gewalttätig. Vielmehr verfiel er in eine Art star-
    ren Halbschlaf, der nur gelegentlich von den Geräuschen und
    Bewegungen der anderen Männer durchdrungen wurde. Neben
    ihm murmelten seine Kameraden mit trockenen Kehlen mutlos
    vor sich hin, unterwarfen sich dem Willen des Allmächtigen und
    vertrauten sich seiner immerwährenden Obhut an. In den selte-
    nen Augenblicken, in denen William bei klarem Verstand war,
    schalt er sie für ihre blinde Ergebenheit. Wollten sie denn nicht
    sehen, dass ihr fürsorglicher Gott sich von ihnen abgewendet
    und sie an diesem lausigen Ort mit ihren Leiden allein gelassen
    hatte, um sich mit dringlicheren und ruhmreicheren Angelegen-
    heiten zu beschäftigen? Die Soldaten Ihrer Majestät hatten der
    Hölle ins Antlitz geschaut; das hatte ihnen die Seele geraubt.
    Keiner von ihnen besaß mehr Fleisch auf den Rippen, sie waren
    nur noch trockene Knochen, umhüllt von einem Leichentuch
    aus verlauster Haut. Für Männer wie sie gab es keine Erlösung,
    keinen Himmel. Ohne Seele waren sie nichts wert. Der Tod war
    leere Finsternis, die Ewigkeit des Nichts. Früher wäre William
    über solche Gedanken entsetzt gewesen, jetzt nicht mehr. In den
    endlosen Nächten von Skutari zog er aus seinen Grübeleien
    einen seltsamen, schrecklichen Trost. Im Tod würde er endlich
    Frieden finden.
    Und so lag er da, Tag um Tag, und wartete darauf, endlich die
    Hand des Todes auf der Schulter zu spüren. Er wäre nicht ein-
    mal aufgestanden, um zu essen, hätte es nicht Meath gegeben,
    einen freundlichen irischen Unteroffizier, der auf dem Nachbar-
    strohsack lag. Meath hatte in Alma ein Bein verloren. Den arm-
    seligen Läden in Skutari, die die Männer nicht einmal mit so
    einfachen Alltagsdingen wie Tellern, Messern, Gabeln und Wä-
    sche versorgen konnten, waren schon die Krücken ausgegangen,

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    als die Kämpfe noch gar nicht begonnen hatten. Von den Män-
    nern auf den Genesungsschiffen erwartete man, dass sie sich
    selbst das

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