Der Vermesser
»Möchten
Sie denn sterben?«, fragte er May sehr leise. Dem Hauptmann
traten schier die Augäpfel aus dem Kopf, als er sich hochreckte,
bis er fast auf den Zehenspitzen stand, und seine Nasenflügel
blähten sich.
May sah Rawlinson verwundert an. Die Verblüffung entfachte
eine schwache Glut in seinem erloschenen Blick.
»Die meisten Menschen wollen leben, denke ich«, fuhr Raw-
linson im gleichen sanften Ton fort. »Wahrscheinlich halten die
Kranken und Verwundeten, wie Sie einer sind, in den dunklen
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Nächten des anstrengenden Transports von der Front hierher
nur deshalb durch, weil sie darauf vertrauen, dass sie geheilt
werden, wenn sie sich erst einmal sicher in der Obhut unserer
Lazarette befinden. Dass sie hier gerettet sind. Und doch starben
in den vergangenen Monaten in Skutari Hunderte von Män-
nern. In den Lazaretten versuchte man vergeblich, sie zu retten.
Vielmehr haben die Zustände dort sie umgebracht, rascher und
gewisser, als es der Feind mit der Macht seiner Kanonen und Ge-
wehre je vermocht hätte.«
In der einsetzenden Dämmerung schimmerten die Knöchel
an den geballten Fäusten des Hauptmanns weiß wie Pfeffer-
minzbonbons. Es schien, als würde er bei einem weiteren An-
schlag auf sein Gefühl für militärischen Anstand geradewegs in
die Luft gehen. Doch selbst wenn ihm dieses Kunststück gelun-
gen wäre, hätten die beiden anderen Männer es wahrscheinlich
gar nicht bemerkt. May stand reglos da; hellrote Flecken traten
auf seine bleichen Wangen. Wie eine Kerzenflamme flackerte ein
fahles Licht in seinen Augen auf, um sodann gleichmäßig weiter-
zubrennen. Außergewöhnliche Augen, dachte Rawlinson, die
Iris fast golden, umgeben
von einem grünlichen Rand, der aus-
sah, als hätte man ihn mit Tusche eingefasst.
»Es ist nichts Ruhmreiches und es dient weder der Königin
noch dem Vaterland, an Ruhr oder Cholera zu sterben«, fuhr
Rawlinson fort. Er sprach so leise, dass ihn der Hauptmann über
das Grollen der Empörung hinweg, das in seinen Ohren tobte,
kaum hören konnte. »Ich kann den Schaden, der hier bisher ent-
standen ist, zwar nicht wieder gutmachen. Aber ich kann und
werde alles in meiner Macht Stehende tun, dass sich die Verhält-
nisse ändern. Von jetzt an bin ich hier verantwortlich. Wenn in
Skutari Männer sinnlos sterben, bin ich daran schuld. Ich habe
nicht die Absicht, mir den Tod von Menschen auf mein Gewis-
sen zu laden, Gefreiter May.«
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Rawlinson ma h
c te ei e
n Pause. May stand noch m
i mer reglos
da, in der geschlossenen Hand den vergessenen Knopf.
»Die Arbeiten haben bereits begonnen. Aber mit jeder zusätz-
lichen Hilfe werden wir schneller vorankommen. Es geht Ihnen
nicht besonders gut, das sehe ich. Aber es geht Ihnen gut genug,
denke ich. Die Arbeit, die wir tun, ettet
r
Menschenleben. Viel-
leicht wird sie auch das Ihre retten. Wollen Sie uns helfen?«
Lange herrschte Schweigen. May blickte Rawlinson unver-
wandt an. Er schluckte mehrmals und mahlte mit den Zähnen in
seinem wunden Mund. Plötzlich schloss er die Augen. Aus seiner
offenen Hand fiel der Jackenknopf lautlos zu Boden und rollte
davon. Der Hauptmann zermalmte ihn unter seinem Stiefel, was
ihm eine gewisse Genugtuung zu verschaffen schien.
»Ja«, sagte May schließlich, ohne die Augen aufzuschlagen. Es
kostete ihn solche Anstrengung, die Worte hervorzubringen, dass
sie kaum vernehmbar waren. »Ja, Sir. Ich werde dabei helfen.«
Am nächsten Tag wurde May vom Genesungsschiff in ein
Quartier auf einem umgewandelten Kasernengelände einen Ki-
lometer vom Hafen entfernt verlegt. Meath nahm seine Hand,
schüttelte lächelnd den Kopf und nannte ihn einen Geheimnis-
krämer; es war dem sanften Iren nie in den Sinn gekommen,
dass May lesen und schreiben könnte. Im weiteren Verlauf des
Tages brachte ihn Rawlinson ins Hauptlazarett, wo man bei der
Entfernung der Leitungen, die das Gebäude mit Trinkwasser
versorgten, die verwesten Überreste eines Pferdes freigelegt
hatte. Das erklärte, weshalb das Wasser im Glas immer trüb aus-
gesehen und modrig geschmeckt hatte. May sollte Schnittzeich-
nungen des bestehenden Abwassernetzes bis zu einer Tiefe von
drei Metern anfertigen, so dass als vordringlichste Maßnahme
ein neues Kanalsystem angelegt werden konnte. In der Material-
ausgabe legte man nicht wie üblich eine zögerliche Haltung an
den Tag, als er die dafür notwendigen Werkzeuge anforderte.
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Mit sich allein,
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