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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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»Möchten
    Sie denn sterben?«, fragte er May sehr leise. Dem Hauptmann
    traten schier die Augäpfel aus dem Kopf, als er sich hochreckte,
    bis er fast auf den Zehenspitzen stand, und seine Nasenflügel
    blähten sich.
    May sah Rawlinson verwundert an. Die Verblüffung entfachte
    eine schwache Glut in seinem erloschenen Blick.
    »Die meisten Menschen wollen leben, denke ich«, fuhr Raw-
    linson im gleichen sanften Ton fort. »Wahrscheinlich halten die
    Kranken und Verwundeten, wie Sie einer sind, in den dunklen

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    Nächten des anstrengenden Transports von der Front hierher
    nur deshalb durch, weil sie darauf vertrauen, dass sie geheilt
    werden, wenn sie sich erst einmal sicher in der Obhut unserer
    Lazarette befinden. Dass sie hier gerettet sind. Und doch starben
    in den vergangenen Monaten in Skutari Hunderte von Män-
    nern. In den Lazaretten versuchte man vergeblich, sie zu retten.
    Vielmehr haben die Zustände dort sie umgebracht, rascher und
    gewisser, als es der Feind mit der Macht seiner Kanonen und Ge-
    wehre je vermocht hätte.«
    In der einsetzenden Dämmerung schimmerten die Knöchel
    an den geballten Fäusten des Hauptmanns weiß wie Pfeffer-
    minzbonbons. Es schien, als würde er bei einem weiteren An-
    schlag auf sein Gefühl für militärischen Anstand geradewegs in
    die Luft gehen. Doch selbst wenn ihm dieses Kunststück gelun-
    gen wäre, hätten die beiden anderen Männer es wahrscheinlich
    gar nicht bemerkt. May stand reglos da; hellrote Flecken traten
    auf seine bleichen Wangen. Wie eine Kerzenflamme flackerte ein
    fahles Licht in seinen Augen auf, um sodann gleichmäßig weiter-
    zubrennen. Außergewöhnliche Augen, dachte Rawlinson, die
    Iris fast golden, umgeben

    von einem grünlichen Rand, der aus-
    sah, als hätte man ihn mit Tusche eingefasst.
    »Es ist nichts Ruhmreiches und es dient weder der Königin
    noch dem Vaterland, an Ruhr oder Cholera zu sterben«, fuhr
    Rawlinson fort. Er sprach so leise, dass ihn der Hauptmann über
    das Grollen der Empörung hinweg, das in seinen Ohren tobte,
    kaum hören konnte. »Ich kann den Schaden, der hier bisher ent-
    standen ist, zwar nicht wieder gutmachen. Aber ich kann und
    werde alles in meiner Macht Stehende tun, dass sich die Verhält-
    nisse ändern. Von jetzt an bin ich hier verantwortlich. Wenn in
    Skutari Männer sinnlos sterben, bin ich daran schuld. Ich habe
    nicht die Absicht, mir den Tod von Menschen auf mein Gewis-
    sen zu laden, Gefreiter May.«

    50
    Rawlinson ma h
    c te ei e
    n Pause. May stand noch m
    i mer reglos
    da, in der geschlossenen Hand den vergessenen Knopf.
    »Die Arbeiten haben bereits begonnen. Aber mit jeder zusätz-
    lichen Hilfe werden wir schneller vorankommen. Es geht Ihnen
    nicht besonders gut, das sehe ich. Aber es geht Ihnen gut genug,
    denke ich. Die Arbeit, die wir tun, ettet
    r
    Menschenleben. Viel-
    leicht wird sie auch das Ihre retten. Wollen Sie uns helfen?«
    Lange herrschte Schweigen. May blickte Rawlinson unver-
    wandt an. Er schluckte mehrmals und mahlte mit den Zähnen in
    seinem wunden Mund. Plötzlich schloss er die Augen. Aus seiner
    offenen Hand fiel der Jackenknopf lautlos zu Boden und rollte
    davon. Der Hauptmann zermalmte ihn unter seinem Stiefel, was
    ihm eine gewisse Genugtuung zu verschaffen schien.
    »Ja«, sagte May schließlich, ohne die Augen aufzuschlagen. Es
    kostete ihn solche Anstrengung, die Worte hervorzubringen, dass
    sie kaum vernehmbar waren. »Ja, Sir. Ich werde dabei helfen.«
    Am nächsten Tag wurde May vom Genesungsschiff in ein
    Quartier auf einem umgewandelten Kasernengelände einen Ki-
    lometer vom Hafen entfernt verlegt. Meath nahm seine Hand,
    schüttelte lächelnd den Kopf und nannte ihn einen Geheimnis-
    krämer; es war dem sanften Iren nie in den Sinn gekommen,
    dass May lesen und schreiben könnte. Im weiteren Verlauf des
    Tages brachte ihn Rawlinson ins Hauptlazarett, wo man bei der
    Entfernung der Leitungen, die das Gebäude mit Trinkwasser
    versorgten, die verwesten Überreste eines Pferdes freigelegt
    hatte. Das erklärte, weshalb das Wasser im Glas immer trüb aus-
    gesehen und modrig geschmeckt hatte. May sollte Schnittzeich-
    nungen des bestehenden Abwassernetzes bis zu einer Tiefe von
    drei Metern anfertigen, so dass als vordringlichste Maßnahme
    ein neues Kanalsystem angelegt werden konnte. In der Material-
    ausgabe legte man nicht wie üblich eine zögerliche Haltung an
    den Tag, als er die dafür notwendigen Werkzeuge anforderte.

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    Mit sich allein,

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