Der Vermesser
Essen holten, und so wurden die Rationen, so kärglich
sie waren, auf dem Vorderdeck verteilt. Jeden Tag aufs Neue
überredete Meath seinen Leidensgenossen, von seinem Lager
aufzustehen, um sich gemeinsam mit ihm einen Weg zwischen
den Strohsäcken zur Essensausgabe zu bahnen, langsam, wobei
Meath den Arm um Williams Hals legte. Manchmal geriet Wil-
liam ins Wanken, wenn r
e die Wärme und Kompaktheit von
Meaths Körper an dem seinen spürte.
»Die Verpflegung hier ist fast so reichlich wie in meiner Kind-
heit«, pflegte Meath zu scherzen. Seine Familie hatte in Skib-
bereen einen Bauernhof gepachtet; alle seine Angehörigen außer
seinem Bruder, der wie Meath Soldat geworden war, um den
elenden Lebensbedingungen zu entgehen, waren verhungert.
»Wenn ich gewusst hätte, dass ich hier die gleiche Brühe als Kaf-
fee bekomme wie damals zu Hause, hätten mich keine zehn
Pferde hergebracht.«
Nachts weinte Meath still um seine Mutter und weil ihm sein
amputiertes Bein unerträgliche Schmerzen bereitete. Auch Wil-
liam konnte keinen Schlaf finden. Nacht für Nacht lag er mit of-
fenen Augen da, die Arme um die Brust geschlungen, reglos wie
die Grabstatue eines mittelalterlichen Ritters. Er ließ nicht zu,
dass ihn die Erinnerung an das Grauen überfiel, das ihn hierher
gebracht hatte. Wenn sich, was selten vorkam, dennoch ein
Stück Erinnerung in sein Bewusstsein schlich, war es so unwirk-
lich und unscharf wie eine verblichene Daguerreotypie. Nur im
Schlaf waren die Bilder lebendig, die endlosen Reihen der verwe-
senden Toten, der schwarze Schrecken des gefrorenen Schützen-
grabens, die Schatten, der Gestank und die anklagenden Schreie.
Eines Nachts träumte er, er würde Polly töten, ihr das Bajonett
immer wieder in den Hals stoßen. Sie schrie selbst dann noch,
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als ihr Kopf schon vom Hals abgetrennt war. Als er erwachte,
musste er sich, von Schuldgefühlen und Schrecken gepeinigt,
stundenlang übergeben. Während seine Wunde allmählich ver-
heilte, kam ihm gar nie in den Sinn, dass er eines Tages Skutari
wieder verlassen müsste. Der Gedanke, zu Polly zurückzukehren
und wieder in die gewöhnliche Zufriedenheit ihres gemeinsa-
men Lebens in London einzutauchen, lag jenseits seiner Vorstel-
lungskraft. Jene Welt, in der alles einen klaren Sinn hatte und die
Menschen in der Dunkelheit die Arme ausstreckten, um einan-
der zu ertasten, jene Welt war für ihn vollständig verloren. Sein
Platz war hier in diesem überbelegten Schlafsaal, wo er dicht an
dicht mit den anderen lag, alle geschwächt, unrasiert, ungewa-
schen, unter ihren Armeemänteln zitternd. Ein Obdachlosen-
heim für die Untoten, ein Ort, der unbelastet war von Gefühlen
und Erwartungen, wo gestern und morgen nichts bedeuteten
und unbeachtet verstrichen. Hier gehörte er hin.
Es war ein bewölkter Nachmittag Mitte März, als nach May ge-
schickt wurde. Unter den Patienten auf den Genesungsschiffen
kursierten bereits seit Wochen Gerüchte, dass Sewastopol frische
Kräfte erhalten solle. Jeder, der in der Lage sei, sich ohne fremde
Hilfe auf den Beinen zu halten, werde an die Front zurück-
geschickt. Mit taumelnden Schritten bewegte sich May über
den gefrorenen Schlammboden, angetrieben von dem streng bli-
ckenden Offizier, der ihn verächtlich mit dem Gewehrkolben
vorwärts stieß. Er brauche ihm kein Schmierentheater vorzu-
spielen, blaffte ihn der Offizier mit unverhohlenem Abscheu
an. May werde nicht sofort zur kämpfenden Truppe zurückkeh-
ren. Entsprechend den Empfehlungen der Hygienekommission
seien umfangreiche Instandsetzungsarbeiten angeordnet worden,
und alle Soldaten mit Kenntnissen im Ingenieur- oder Vermes-
sungswesen würden herangezogen, um besagte Empfehlungen in
die Tat umzusetzen. Als leitender Ingenieur des Projekts werde
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Mr. Rawlinson in Skutari bleiben und die Arbeiten überwachen.
Rawlinson sei von höchster Ebene der britischen Armee umfas-
sende Unterstützung zugesagt worden, teilte der Hauptmann
May mit und verzog den Mund, als ekelte er sich vor diesen Wor-
ten. Rawlinson habe zwar keinen militärischen Rang, man er-
warte jedoch, dass May seinen Anweisungen Folge leiste. Das,
bellte der Hauptmann, sei ein Befehl.
Rawlinson warf dem Gefreiten über seine Halbbrille hinweg
einen flüchtigen Blick zu. Dabei wurde ihm zum tausendsten
Mal bewusst, dass er selbst eine seidig glänzende schwarze Jacke
und einen gestärkten weißen Kragen trug. Obwohl
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