Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
Vom Netzwerk:
Essen holten, und so wurden die Rationen, so kärglich
    sie waren, auf dem Vorderdeck verteilt. Jeden Tag aufs Neue
    überredete Meath seinen Leidensgenossen, von seinem Lager
    aufzustehen, um sich gemeinsam mit ihm einen Weg zwischen
    den Strohsäcken zur Essensausgabe zu bahnen, langsam, wobei
    Meath den Arm um Williams Hals legte. Manchmal geriet Wil-
    liam ins Wanken, wenn r
    e die Wärme und Kompaktheit von
    Meaths Körper an dem seinen spürte.
    »Die Verpflegung hier ist fast so reichlich wie in meiner Kind-
    heit«, pflegte Meath zu scherzen. Seine Familie hatte in Skib-
    bereen einen Bauernhof gepachtet; alle seine Angehörigen außer
    seinem Bruder, der wie Meath Soldat geworden war, um den
    elenden Lebensbedingungen zu entgehen, waren verhungert.
    »Wenn ich gewusst hätte, dass ich hier die gleiche Brühe als Kaf-
    fee bekomme wie damals zu Hause, hätten mich keine zehn
    Pferde hergebracht.«
    Nachts weinte Meath still um seine Mutter und weil ihm sein
    amputiertes Bein unerträgliche Schmerzen bereitete. Auch Wil-
    liam konnte keinen Schlaf finden. Nacht für Nacht lag er mit of-
    fenen Augen da, die Arme um die Brust geschlungen, reglos wie
    die Grabstatue eines mittelalterlichen Ritters. Er ließ nicht zu,
    dass ihn die Erinnerung an das Grauen überfiel, das ihn hierher
    gebracht hatte. Wenn sich, was selten vorkam, dennoch ein
    Stück Erinnerung in sein Bewusstsein schlich, war es so unwirk-
    lich und unscharf wie eine verblichene Daguerreotypie. Nur im
    Schlaf waren die Bilder lebendig, die endlosen Reihen der verwe-
    senden Toten, der schwarze Schrecken des gefrorenen Schützen-
    grabens, die Schatten, der Gestank und die anklagenden Schreie.
    Eines Nachts träumte er, er würde Polly töten, ihr das Bajonett
    immer wieder in den Hals stoßen. Sie schrie selbst dann noch,

    45
    als ihr Kopf schon vom Hals abgetrennt war. Als er erwachte,
    musste er sich, von Schuldgefühlen und Schrecken gepeinigt,
    stundenlang übergeben. Während seine Wunde allmählich ver-
    heilte, kam ihm gar nie in den Sinn, dass er eines Tages Skutari
    wieder verlassen müsste. Der Gedanke, zu Polly zurückzukehren
    und wieder in die gewöhnliche Zufriedenheit ihres gemeinsa-
    men Lebens in London einzutauchen, lag jenseits seiner Vorstel-
    lungskraft. Jene Welt, in der alles einen klaren Sinn hatte und die
    Menschen in der Dunkelheit die Arme ausstreckten, um einan-
    der zu ertasten, jene Welt war für ihn vollständig verloren. Sein
    Platz war hier in diesem überbelegten Schlafsaal, wo er dicht an
    dicht mit den anderen lag, alle geschwächt, unrasiert, ungewa-
    schen, unter ihren Armeemänteln zitternd. Ein Obdachlosen-
    heim für die Untoten, ein Ort, der unbelastet war von Gefühlen
    und Erwartungen, wo gestern und morgen nichts bedeuteten
    und unbeachtet verstrichen. Hier gehörte er hin.
    Es war ein bewölkter Nachmittag Mitte März, als nach May ge-
    schickt wurde. Unter den Patienten auf den Genesungsschiffen
    kursierten bereits seit Wochen Gerüchte, dass Sewastopol frische
    Kräfte erhalten solle. Jeder, der in der Lage sei, sich ohne fremde
    Hilfe auf den Beinen zu halten, werde an die Front zurück-
    geschickt. Mit taumelnden Schritten bewegte sich May über
    den gefrorenen Schlammboden, angetrieben von dem streng bli-
    ckenden Offizier, der ihn verächtlich mit dem Gewehrkolben
    vorwärts stieß. Er brauche ihm kein Schmierentheater vorzu-
    spielen, blaffte ihn der Offizier mit unverhohlenem Abscheu
    an. May werde nicht sofort zur kämpfenden Truppe zurückkeh-
    ren. Entsprechend den Empfehlungen der Hygienekommission
    seien umfangreiche Instandsetzungsarbeiten angeordnet worden,
    und alle Soldaten mit Kenntnissen im Ingenieur- oder Vermes-
    sungswesen würden herangezogen, um besagte Empfehlungen in
    die Tat umzusetzen. Als leitender Ingenieur des Projekts werde

    46
    Mr. Rawlinson in Skutari bleiben und die Arbeiten überwachen.
    Rawlinson sei von höchster Ebene der britischen Armee umfas-
    sende Unterstützung zugesagt worden, teilte der Hauptmann
    May mit und verzog den Mund, als ekelte er sich vor diesen Wor-
    ten. Rawlinson habe zwar keinen militärischen Rang, man er-
    warte jedoch, dass May seinen Anweisungen Folge leiste. Das,
    bellte der Hauptmann, sei ein Befehl.
    Rawlinson warf dem Gefreiten über seine Halbbrille hinweg
    einen flüchtigen Blick zu. Dabei wurde ihm zum tausendsten
    Mal bewusst, dass er selbst eine seidig glänzende schwarze Jacke
    und einen gestärkten weißen Kragen trug. Obwohl

Weitere Kostenlose Bücher