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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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schmolz. Diese Löcher erschreckten ihn. Dabei war
    der brennende Schmerz, den sie verursachten, nicht einmal das
    Schlimmste. Weit beängstigender für ihn war die Erkenntnis,
    wie viel mehr Schmerz er noch würde erdulden müssen, da der
    Winter sich so grimmig in ihm festgesetzt hatte. Rawlinsons
    Auftauchen hatte alles verändert. Bis dahin war sich William
    ganz sicher gewesen, dass es ihn kaum kümmerte, ob er lebte
    oder starb. Irgendwo im Hinterkopf hatte er sich sogar bereits
    gefragt, ob er nicht schon tot war. Nun wusste er, dass er damit
    völlig falsch gelegen hatte. Er war nicht nur am Leben. Er wollte
    leben.

    Das mit der Selbstverstümmelung hatte beinahe zufällig begon-
    nen. Als Mitglied von Rawlinsons Arbeitstruppe erhielt William
    einmal pro Woche warmes Wasser zugeteilt. Eines Morgens bot
    ihm einer der neuen Hygieneinspekteure an, sein Rasiermesser
    zu benutzen. Sorgfältig zog es William am Lederriemen ab und
    hielt die Schneide ins Licht. Da brandete etwas in ihm auf, um-
    schloss sein Herz wie eine Faust. Er biss sich auf die Lippen, legte
    das Rasiermesser mit zittriger Hand auf den Waschtisch und
    griff nach der Seifenschale, den Blick auf den aufsteigenden
    Schaum gerichtet, während er mit dem Rasierpinsel in der Schale

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    rührte. Doch der Druck in seinem Innern ließ nicht nach. Er
    staute sich zwischen den Wirbeln des Rückgrats an, zwängte die
    Rippen auseinander und drängte nach außen. William hatte das
    Gefühl, jeden Moment zu explodieren. Seine Hände zitterten,
    und die Augen brannten ihm, als würden die Lider wie Schleif-
    papier darüberscheuern. Voller Angst hielt er sich am Rand der
    Porzellanschüssel fest und versuchte sich gegen diese Gefühle zu
    wehren, aber sie ließen nicht von ihm ab, sondern wurden im-
    mer stärker. Es gelang ihm einfach nicht, sich zu beruhigen. Der
    Druck in seinem Kopf nahm zu, presste gegen die zerbrech-
    liche Schädeldecke. Er dröhnte ihm in den Ohren, schnürte ihm
    Kehle und Nase zu, bis er kaum mehr atmen konnte. Mit aller
    Kraft grub sich William die Fingernägel ins Handgelenk, wo
    sichelförmige Abdrücke zurückblieben, aber er spürte nichts
    als Schwärze, die sich nicht abwehren ließ. Voller Verzweiflung
    schleuderte er die Seifenschale quer durchs Zimmer. Er sah, wie
    sie an der Wand zerschellte, hörte es aber nicht. Und dann, wie
    aus weiter Ferne, als schwebte er über seinem eigenen Körper,
    beobachtete er, wie seine Hand nach dem Rasiermesser griff.
    Schon veränderte sich der Druck in seinem Kopf, in der ge-
    ballten Schwärze reifte ein Entschluss heran. Sehr langsam, die
    Hand noch ein wenig zittrig, fuhr er mit der Schneide über die
    nicht eingeschäumte Wange und drückte sich die Klinge ge-
    mächlich ins Fleisch, bis es blutete.
    Der Schnitt war nicht tief, wirkte aber so zuverlässig wie das
    Ventil einer Dampfmaschine. Die Erleichterung war herrlich.
    Mit dem herausfließenden Blut verflüchtigte sich die schreck-
    liche Schwärze. Ihn überkam das Gefühl, besänftigt und geläu-
    tert zu werden. Und das Blut bewies ihm, dass er noch am Leben
    war. Er fühlte sich in Hochstimmung, gleichzeitig aber völlig ru-
    hig. Sanft drückte er ein sauberes Tuch auf die Wunde. Als er
    dem Inspekteur das Rasiermesser zurückbrachte, konnte er ganz

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    unbefangen über seine Ungeschicklichkeit, seine mangelnde Fin-
    gerfertigkeit scherzen. Man gab ihm Jod, mit dem er sorgfältig
    den Schnitt reinigte. Zum ersten Mal seit Monaten fühlte er sich
    bei vollem Bewusstsein und Herr seiner selbst. Er lächelte. Der
    stechende Schmerz, der dabei in seiner Wange brannte, ließ ihn
    erneut lächeln. Und mit der Taubheit, die mit der Zeit zurück-
    kehrte, kam eine Ruhe über ihn, die er bisher nicht gekannt
    hatte. Es war so einfach. Rawlinson lobte ihn, weil er seine Arbeit
    zügig und penibel erledigte. William lernte schnell und vertiefte
    sich immer mehr in die technischen Einzelheiten von Durch-
    messer, Gradient und Neigungswinkel, anhand deren handfest
    und solide seine Pläne erwuchsen. Eines Nachmittags unterbrei-
    tete William, wenngleich zögerlich, selbst einen Lösungsvor-
    schlag für ein Problem mit der Spülung an der Westseite des Ka-
    sernenlazaretts, der auf Zustimmung stieß und auch umgesetzt
    wurde. Zwei lange Wochen ging William ganz in seiner Arbeit
    auf. Langsam, ganz langsam, fing er an, sich nicht mehr als Ge-
    freiter May zu sehen, der im Krimkrieg verwundet worden war,
    sondern als William Henry

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