Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
Vom Netzwerk:
das Papier auf dem Zeichenbrett befestigt, starrte
    May auf die glänzende Wasserwaage in seiner Hand. Sie fühlte
    sich überraschend vertraut und zugleich völlig fremd an, und
    einen Augenblick war er sicher, dass er nie herausfinden würde,
    wie man sie benutzte. Das machte ihn so unruhig, dass er die
    Wasserwaage rasch auf den Tisch legte und sie aus seinem Blick-
    feld schob. Hätte ihn sein Gedächtnis nicht im Stich gelassen, so
    hätte er sich daran erinnert, dass er wenige Monate zuvor genau
    das gleiche Gefühl empfunden hatte, als er zum ersten Mal ein
    Gewehr in der Hand hielt.

    In den Bergen über Balaklawa war William manchmal während
    der Morgendämmerung, nach dem nächtelangen Dienst im
    Schützengraben, so durchgefroren ins Lager zurückgekehrt, dass
    er nicht wagte, die Stiefel auszuziehen, aus Angst, die Zehen
    könnten ihm abfallen. Mit den steif gefrorenen Fingern hätte er
    es ohnehin nicht geschafft, die verknoteten Schnürsenkel zu lö-
    sen. So kauerte er sich stattdessen vor das dürftige Feuer, das
    seine Kameraden aus der Kompanie zustande gebracht hatten,
    während in Füße, Hände und Ohren unter großen Schmerzen
    das Leben zurückkehrte. Eine Dienstschicht dauerte zwölf Stun-
    den; noch vor Ablauf der ersten Stunde hatten sich die warmen,
    lebendigen Teile von Williams Körper in einen Ort tief in seinem
    Innern zurückgezogen, wo sie sich den Rest der Nacht über ver-
    krochen wie Kinder, die sich in einem verlassenen Haus verste-
    cken. Und als sie schließlich gefunden wurden, waren sie außer
    Rand und Band. Hände und Füße schwollen ihm an, bis die
    gespannte, durchscheinende Haut aufplatzte wie eine überreife
    Frucht. Finger und Zehen wurden steif und ließen sich vor
    Schmerz nicht mehr bewegen. Die Entzündung in den Gelen-
    ken verursachte kastaniengroße weiße und purpurrote Beulen,
    die derart brannten und juckten, dass er schier verrückt wurde.

    52
    Wollte er die Eintragung in das Wachbuch machen, rutschte ihm
    immer wieder der Bleistift aus den Fingern, und die Schrift auf
    dem Papier geriet so dünn und ungelenk, dass man sie kaum
    entziffern konnte. Seine Ohren bluteten. Manchmal wurde der
    Schmerz beim Aufwärmen so unerträglich, dass er am liebsten
    im Schnee geschlafen hätte, und so kehrte er zuweilen auf seinen
    eisigen Posten zurück, um sich nicht der Pein des Auftauens aus-
    zusetzen.
    In den Tagen nach dem Treffen mit Rawlinson erlebte William
    erneut die Qualen jener Morgenstunden, aber nicht an Händen
    oder Füßen. Seit seiner Ankunft auf der Krim hatte die einzig
    zuverlässige Methode, sich zu schützen, darin bestanden, nichts
    zu empfinden und sich um nichts zu kümmern. Das war ihm
    leicht gefallen. Der Krieg hatte ihn gleichsam eingefroren. Er
    musste nur an dieser Eiseskälte festhalten, sich in der Brust einen
    ständigen tiefen Winter bewahren. Bis die Hygienekommission
    auf den Plan trat, empfand er das als einfach.
    Rawlinson war kein warmherziger Mensch. Die humanitäre
    Bedeutung seiner Arbeit war ihm wichtig, sein Interesse an den
    Mitmenschen jedoch war eher theoretischer Natur. Er behan-
    delte alle Männer, mit denen er zu tun hatte, mit der gleichen
    würdevollen und wohl überlegten Distanziertheit. Mit der Ar-
    beit selbst verhielt es sich anders. Wenn er sich in sie vertiefte,
    strahlte er eine reine und rückhaltlose Leidenschaftlichkeit aus.
    Und mit dieser Begeisterung steckte er auch seine Männer an
    und weckte tagtäglich in ihnen Empfindungen, die den Soldaten
    so ungewohnt geworden waren wie frisches Fleisch: Neugier,
    Fantasie, innere Überzeugung, Optimismus und Zielstrebigkeit.
    William beobachtete Rawlinson bei der Arbeit, prägte sich den
    konzentrierten Ausdruck in den nachdenklichen Augen des In-
    genieurs ein, das triumphierende Aufflackern der Erkenntnis,
    wenn er die Lösung für ein kniffliges Problem gefunden hatte.

    53
    Abends versuchte William, diesen Ausdruck in seinem eigenen
    Gesicht nachzuahmen, aber obwohl er ebenso die Stirn runzeln
    und die Augen aufreißen konnte, verband sich diese Mimik mit
    nichts in seinem Innern, was ihr einen Sinn verliehen hätte.
    Selbst als er seine wohl gehüteten Botanikhefte aus der Tasche
    seines Armeemantels holte und zum ersten Mal seit Monaten die
    zerschlissenen Seiten durchblätterte, fühlte er nichts. Nicht das
    Geringste.
    Dennoch umhüllte ihn Rawlinsons Begeisterung wie ein war-
    mer Lufthauch, der kleine Löcher in seinen sorgsam gehüteten
    Eispanzer

Weitere Kostenlose Bücher