Der Vermesser
das Papier auf dem Zeichenbrett befestigt, starrte
May auf die glänzende Wasserwaage in seiner Hand. Sie fühlte
sich überraschend vertraut und zugleich völlig fremd an, und
einen Augenblick war er sicher, dass er nie herausfinden würde,
wie man sie benutzte. Das machte ihn so unruhig, dass er die
Wasserwaage rasch auf den Tisch legte und sie aus seinem Blick-
feld schob. Hätte ihn sein Gedächtnis nicht im Stich gelassen, so
hätte er sich daran erinnert, dass er wenige Monate zuvor genau
das gleiche Gefühl empfunden hatte, als er zum ersten Mal ein
Gewehr in der Hand hielt.
In den Bergen über Balaklawa war William manchmal während
der Morgendämmerung, nach dem nächtelangen Dienst im
Schützengraben, so durchgefroren ins Lager zurückgekehrt, dass
er nicht wagte, die Stiefel auszuziehen, aus Angst, die Zehen
könnten ihm abfallen. Mit den steif gefrorenen Fingern hätte er
es ohnehin nicht geschafft, die verknoteten Schnürsenkel zu lö-
sen. So kauerte er sich stattdessen vor das dürftige Feuer, das
seine Kameraden aus der Kompanie zustande gebracht hatten,
während in Füße, Hände und Ohren unter großen Schmerzen
das Leben zurückkehrte. Eine Dienstschicht dauerte zwölf Stun-
den; noch vor Ablauf der ersten Stunde hatten sich die warmen,
lebendigen Teile von Williams Körper in einen Ort tief in seinem
Innern zurückgezogen, wo sie sich den Rest der Nacht über ver-
krochen wie Kinder, die sich in einem verlassenen Haus verste-
cken. Und als sie schließlich gefunden wurden, waren sie außer
Rand und Band. Hände und Füße schwollen ihm an, bis die
gespannte, durchscheinende Haut aufplatzte wie eine überreife
Frucht. Finger und Zehen wurden steif und ließen sich vor
Schmerz nicht mehr bewegen. Die Entzündung in den Gelen-
ken verursachte kastaniengroße weiße und purpurrote Beulen,
die derart brannten und juckten, dass er schier verrückt wurde.
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Wollte er die Eintragung in das Wachbuch machen, rutschte ihm
immer wieder der Bleistift aus den Fingern, und die Schrift auf
dem Papier geriet so dünn und ungelenk, dass man sie kaum
entziffern konnte. Seine Ohren bluteten. Manchmal wurde der
Schmerz beim Aufwärmen so unerträglich, dass er am liebsten
im Schnee geschlafen hätte, und so kehrte er zuweilen auf seinen
eisigen Posten zurück, um sich nicht der Pein des Auftauens aus-
zusetzen.
In den Tagen nach dem Treffen mit Rawlinson erlebte William
erneut die Qualen jener Morgenstunden, aber nicht an Händen
oder Füßen. Seit seiner Ankunft auf der Krim hatte die einzig
zuverlässige Methode, sich zu schützen, darin bestanden, nichts
zu empfinden und sich um nichts zu kümmern. Das war ihm
leicht gefallen. Der Krieg hatte ihn gleichsam eingefroren. Er
musste nur an dieser Eiseskälte festhalten, sich in der Brust einen
ständigen tiefen Winter bewahren. Bis die Hygienekommission
auf den Plan trat, empfand er das als einfach.
Rawlinson war kein warmherziger Mensch. Die humanitäre
Bedeutung seiner Arbeit war ihm wichtig, sein Interesse an den
Mitmenschen jedoch war eher theoretischer Natur. Er behan-
delte alle Männer, mit denen er zu tun hatte, mit der gleichen
würdevollen und wohl überlegten Distanziertheit. Mit der Ar-
beit selbst verhielt es sich anders. Wenn er sich in sie vertiefte,
strahlte er eine reine und rückhaltlose Leidenschaftlichkeit aus.
Und mit dieser Begeisterung steckte er auch seine Männer an
und weckte tagtäglich in ihnen Empfindungen, die den Soldaten
so ungewohnt geworden waren wie frisches Fleisch: Neugier,
Fantasie, innere Überzeugung, Optimismus und Zielstrebigkeit.
William beobachtete Rawlinson bei der Arbeit, prägte sich den
konzentrierten Ausdruck in den nachdenklichen Augen des In-
genieurs ein, das triumphierende Aufflackern der Erkenntnis,
wenn er die Lösung für ein kniffliges Problem gefunden hatte.
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Abends versuchte William, diesen Ausdruck in seinem eigenen
Gesicht nachzuahmen, aber obwohl er ebenso die Stirn runzeln
und die Augen aufreißen konnte, verband sich diese Mimik mit
nichts in seinem Innern, was ihr einen Sinn verliehen hätte.
Selbst als er seine wohl gehüteten Botanikhefte aus der Tasche
seines Armeemantels holte und zum ersten Mal seit Monaten die
zerschlissenen Seiten durchblätterte, fühlte er nichts. Nicht das
Geringste.
Dennoch umhüllte ihn Rawlinsons Begeisterung wie ein war-
mer Lufthauch, der kleine Löcher in seinen sorgsam gehüteten
Eispanzer
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