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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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May, Kartograph und Landvermes-
    ser. Er sah die Zukunft zwar nicht weit vor sich ausgebreitet, ja
    eigentlich nur bis zu den Erfordernissen des nächsten Tages,
    aber es war immerhin eine Zukunft, während es viele Monate
    lang überhaupt keine gegeben hatte.
    Zwei Wochen. Und dann begann der Druck sich wieder auf-
    zubauen. Diesmal schnitt sich William mit einem Fleischmesser
    in den Oberschenkel. Die Wunde war viel tiefer als beim ersten
    Mal, und anschließend konnte er sich an kein einziges Detail er-
    innern. Diese Gedächtnislücke beunruhigte ihn, aber keines-
    wegs so sehr wie die Vorstellung, sich keine Verletzungen mehr
    zuzufügen. Beim nächsten Mal schnitt er sich in den anderen
    Oberschenkel, danach in die Arme. Jedes Mal konnte er sich
    anschließend an nichts mehr erinnern. Er gewöhnte sich an,

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    diese Gedächtnislücken nicht länger zu fürchten, sondern jenen
    Augenblick der vollkommenen Ekstase zu genießen, wenn er mit
    dem herrlich purpurroten Aufschrei des Blutes wieder zu sich
    selbst kam. Von da an waren es immer die Arme. Er war stolz da-
    rauf. Die Arme konnte man leichter abbinden, und es ging
    schneller. Wenn er sich schneiden wollte, musste er nur den Är-
    mel hochschieben. Und sobald er ihn wieder heruntergerollt
    hatte, kannte nur er die genaue Form der Muster auf der Arm-
    unterseite, die dünnen, rosaroten Wülste der Narben, die den
    verkrusteten Schorf und die klaffenden Risse der jüngsten
    Schnitte kreuzten. Die Linien breiteten sich wie ein Fischernetz
    über seine Haut aus, das ihn gefangen hielt. Stets trug er ein
    Messer in der Tasche. Manchmal, wenn sich der Druck aufbaute,
    aber noch nicht unerträglich war, fuhr er mit der stumpfen Seite
    der Klinge sanft über dieses Muster.
    Es wurde wärmer und bald erdrückend heiß. Erst taute der
    Morast auf, dann buk die Sonne ihn zu hohen Furchen. Im Juli
    rief Rawlinson seine Mannschaft zu sich. Ihre Arbeit, teilte er ih-
    nen von ruhigem Stolz erfüllt mit, sei fast abgeschlossen. Die
    Sterberate unter den Patienten habe sich von zuvor fünfzig auf
    rund zwei Prozent vermindert, und das sei fast ausschließlich
    den verbesserten hygienischen Bedingungen und sanitären An-
    lagen zu verdanken, dem Ergebnis ihrer Arbeit. Es bestehe für
    Rawlinson keine Notwendigkeit mehr, in der Türkei zu bleiben.
    Er werde zu gegebener Zeit nach England zurückkehren, aber
    zuvor beabsichtige er noch, an die Front zu reisen, um sich ein
    eigenes Bild von den Kämpfen zu verschaffen, die so viele Män-
    ner hierher in die Lazarette von Skutari brachten. In der kom-
    menden Woche werde er per Schiff nach Balaklawa fahren. Viel-
    leicht, sagte er und nickte den Männern ernst zu, würden manche
    von ihnen so weit wiederhergestellt sein, dass sie zur kämpfen-
    den Truppe zurückkehren könnten, noch während er die Front

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    inspiziere. Er hoffe, dass sie ihm dann, sofern ihr Dienst und die
    Umstände es erla b
    u ten, die Ehre erweisen würden, ihm dort
    einen Besuch abzustatten.
    Nach Rawlinsons Abreise schnitt sich William noch häufiger,
    und er schlief auch unruhiger. Seine Albträume wurden beson-
    ders intensiv. Er träumte, er befinde sich im Keller neben dem
    Hauptlazarett, wo bis vor kurzem Soldatenfrauen auf dem ge-
    stampften Lehmboden gehaust hatten – ihre Betten und Körper
    nur ein Haufen schmutziger Lumpen. Eine schnarrende Stimme,
    die er als seine eigene erkannte, befahl den Frauen einer nach der
    anderen, sich entlang der Wand aufzustellen. Es schneite im Kel-
    ler. Ein Mann in der grauen Uniform eines russischen Soldaten,
    das Gesicht durch einen aufgemalten Bart unkenntlich gemacht,
    wandte sich ihm zu und fragte mit einer leichten Verbeugung
    und dem unverw
    s
    ech elbaren steifen Akzent eines englischen
    Gentlemans: »Jetzt?«
    »Jetzt!«, bellte die gesichtslose Stimme. Der Russe pflanzte
    sein Bajonett auf und richtete es auf die erste Frau. Die Klinge
    glänzte im Licht. Die Frau bedeckte das Gesicht und drückte sich
    gegen die Wand. Dann sackte sie in sich zusammen, ihr toter
    Körper schwarz wie der eines Schornsteinfegers. Der Russe
    wandte sich der Stimme zu und lächelte. Das Lächeln verformte
    seinen Bart zu einem grau d r
    u chwirkten Spatenblatt. Seine
    grauen Augen blinzelten. Der Russe war Rawlinson.
    »Du hast mich getötet«, meinte er beiläufig, die Hand auf der
    Brust. Blut floss ihm in dicken, roten Streifen durch die Finger.
    Und dann noch einmal: »Du hast mich getötet!« Beim zweiten
    Mal

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