Der Vermesser
Kanalnetz auf die allernotwendigsten Messungen. Die zu
ihrer Führung abgestellten Ausspüler, die ansonsten im Auftrag
der Gemeinde die Kanäle reinigten, brachten den in ihr Terri-
torium eindringenden Herrschaften entweder nur Verachtung
entgegen oder ließen sich von ihnen einschüchtern, jedenfalls
waren sie heilfroh, wenn sie wieder verschwanden. Bei Mr. May
war das anders. Er trieb sich so lange in den Kanälen herum, bis
die Ausspüler des Wartens müde wurden. Schon bald wurde die
Regelung getroffen, dass man ihn allein ließ, nachdem man ihn
in den richtigen Kanalabschnitt gebracht hatte. Ein Seil mar-
kierte die Strecke zum nächstgelegenen Ausgang hinter ihm;
einer der Ausspüler blieb oben, um Bescheid zu geben, falls das
Wetter umschlug oder sonst eine Gefahr drohte. Nach ihrem
Umzug nach Lambeth hatte Polly vorgeschlagen, William solle
doch in dem überwucherten Erdreich hinter ihrem Häuschen
einen Gemüsegarten und Beete für die Blumen anlegen, die er
immer so geliebt hatte – ein Refugium voller Duft und Farben,
das sich von den dunklen, stinkenden Abwasserkanälen unter-
schied wie Schnee von Ruß. Sie brachte einen Samenkatalog
mit nach Hause und legte ihn abends neben seinen Teller. Er
schlug ihn nicht einmal auf. Er konnte es einfach nicht. Ein
Garten war unmöglich, vollkommen unmöglich. Die dunklen,
stinkenden Abwasserkanäle dagegen zogen ihn geradezu ma-
gisch an.
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Anfangs waren die Kanäle nur ein geheimes Reich der Finster-
nis, wo er sich ins Fleisch schneiden konnte. Die Intensität seiner
Sucht, sich mit dem Messer zu verletzen, erschreckte William
und widerte ihn an, aber er war machtlos dagegen. Der Drang
war stärker als er und nahm immer weiter zu, bis William bald
völlig davon beherrscht wurde. Verstand und Gefühl waren aus-
gelöscht bis auf das drängende Verlangen nach der Klinge, die
sein Fleisch entflammte. Und sosehr er sich davor fürchtete, so
sehr verzehrte er sich danach. Wo immer er arbeitete, versteckte
er ein Messer unter einem lockeren Backstein in der bröckelnden
Mauer, um jederzeit eines zur Hand zu haben. In seinem Leder-
beutel trug er heimlich eine Bandage bei sich. Polly blieb dies na-
türlich nicht immer verborgen. Sie tadelte ihn sanft und neckte
ihn wegen seiner Achtlosigkeit im Umgang mit den Werkzeugen,
aber da er stets beharrlich schwieg, wechselte sie rasch das The-
ma. Sie wollte nicht in ihn dringen und alles verderben. An den
Tagen, an denen er mit einer Bandage um den Arm nach Hause
kam, war er wieder der William, den sie von früher kannte. Er
war liebevoll, ja sentimental. Dann streichelte er ihre Wangen
und nannte sie seine kleine Kreuzblume, und in seinen Augen
standen Tränen. Er hob seinen Sohn auf seinen Schoß, küsste
sein goldblondes Haar und achtete darauf, nicht zusammenzu-
zucken, wenn sich das Kind selig in seine Arme schmiegte. An
diesen Tagen waren sie glücklich.
Hinter seinem Rücken nannten die anderen Ingenieure Wil-
liam den König der Kloaken. Obwohl sie wussten, dass er pein-
lich auf Sauberkeit achtete, hielten sich einige demonstrativ die
Nase zu, wenn er in den Korridoren an ihnen vorüberging. Es
war ein harmloser, jedoch nicht von Zuneigung getragener
Spott. Man hielt May für hochmütig und nahm es ihm übel.
Wäre William von hohem Stand gewesen, hätte man seine Zu-
rückhaltung zweifellos respektiert und für angemessen erachtet;
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aber vom Sohn eines einfachen Krämers mit so kühlem Stolz be-
handelt zu werden, das konnten sie einfach nicht hinnehmen.
Viele, die in der Greek Street arbeiteten, hatten Verbindungen
zur Armee, und bald machten Gerüchte von einem alles andere
als tapferen Militärdienst im Krimkrieg, von einer unehrenhaf-
ten Entlassung, ja sogar von einer Fahnenflucht Williams die
Runde. Zu Beginn seiner Tätigkeit bei der Behörde waren Wil-
liams Ruf und Ansehen dank Robert Rawlinsons persönlicher
Empfehlung makellos gewesen. Jetzt legten sich die Gerüchte
wie eine klebrige Staubschicht über ihn und trübten dieses Bild.
William war sich dessen bewusst; und aus Angst, noch mehr
Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, zog er sich immer weiter zu-
rück. In seiner schmalen holzgezimmerten Arbeitsnische saß er
stets mit tief gesenktem Kopfüber den Schriftstücken, und wann
immer sich die Möglichkeit bot, flüchtete er sich in die Einsam-
keit der Abwasserkanäle. Zumindest an seiner Arbeit konnte
niemand etwas
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