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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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aussetzen. Seine Inspektionen waren gründlich
    und genau, seine Vorschläge wohl überlegt. Zur großen Genug-
    tuung seiner Kollegen wurde ihm schon bald die gesamte Last
    der Routineinspektionen aufgebürdet. Von da an verbrachte er
    einen Teil des Tages geduckt unter der Granitdecke der Stadt.
    Die Monate vergingen. Und noch immer verspürte er diesen
    unstillbaren Drang, sich zu verletzen. William merkte, wie sich
    die Sucht in ihm aufbaute, wie sie sich schleichend und bedroh-
    lich zwischen seinen Rippen ausbreitete. Wenn sich die Schwärze
    wie Tinte zwischen den feinen Verästelungen seiner Lunge ver-
    teilte und ihre Knöchel in das weiche Fleisch seines Halses drück-
    te, verkroch er sich in die unterirdischen Kanäle. Er hätte andere,
    leichter zugängliche Orte finden können, wo er sein Verlangen
    hätte stillen können, ohne entdeckt zu werden. Zum Beispiel in
    dem einzigen, gefliesten Wasserklosett in der Greek Street oder in
    der mitternächtlichen Stille seines Hauses in Lambeth, wenn Polly

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    und das Kind schliefen. Aber es zog ihn immer in die Tunnel.
    Hier waren die moralischen Wertmaßstäbe außer Kraft gesetzt.
    Hier galten nicht die strengen und unveränderlichen Verhaltens-
    regeln der Menschen oben, die direkt über ihn hinwegeilten und
    deren Füße den Granitboden über seinem Kopf berührten. Die
    strikten Grenzen zwischen richtig und falsch, Ehrlosigkeit und
    Wohlanständigkeit verwischten und verflüchtigten sich hier im
    Untergrund. Die Dunkelheit nahm ihn auf, ohne Fragen zu stel-
    len oder ihn zu verurteilen, sie umfing ihn in stummer Umar-
    mung. Die Dunkelheit kannte keine Neugier und keine Erinne-
    rung. Hier gab es nur Stille, Einsamkeit und Sicherheit und jene
    unvergleichlich großartige Explosion des Selbstgefühls, wenn
    das Messer ins Fleisch eindrang.
    Es war ein warmer Abend im Mai, als William wieder ein-
    mal in den Untergrund taumelte. Die Stadt döste vor sich hin,
    strahlte in sanftem, lilafarbenem Licht, der fahle Himmel durch-
    wirkt von Gold und Hellrosa. William bemerkte nichts davon,
    als er zum Abwasserkanal in der King Street hastete. Sein Spei-
    chel schmeckte sauer, bitter und metallisch. Er atmete in kurzen,
    quälenden Stößen. Die Muskeln in seinem Gesicht zuckten. Der
    Einstiegsschacht in der Dean Street war verschlossen gewesen.
    Minutenlang hatte er sich vergeblich bemüht, den Deckel anzu-
    heben, hatte die Finger durch das Eisengitter gezwängt und ver-
    sucht, es zu öffnen. Jetzt packte ihn die Schwärze, stieß ihm die
    Ellbogen in die Brust und wühlte in seinen Eingeweiden. Sie riss
    ihm die Arme auseinander und presste sich bis in die Fingerspit-
    zen hinein, drückte mit solch entsetzlicher Gewalt gegen seine
    schmutzigen Nägel, dass sich William vor Verzweiflung in die
    Finger biss. Der Blutgeschmack in seinem Mund versetzte ihn in
    einen solchen Taumel, dass er glaubte, laut aufschreien zu müs-
    sen. Er fing an zu rennen. Die Schwärze überflutete seinen Kopf,
    und er sah nur noch den nächsten Pflasterstein und wiederum

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    den nächsten. Sein Herz nahm den wild hämmernden Rhyth-
    mus seiner Stiefel auf. Das Metallgehäuse seiner Laterne schlug
    ihm schmerzhaft gegen den Oberschenkel, doch er spürte es
    kaum. Er rannte, schneller, immer schneller. Um die nächste
    Ecke. Und da war sie, die Baracke der Ausspüler, die wie ein
    Schilderhäuschen dastand. William besaß den Generalschlüssel.
    Seine Hand zitterte so sehr, dass sie kaum seine Rocktasche fand.
    Der Schlüssel hatte sich im Futter verfangen. In blinder Ver-
    zweiflung und rasender Hast riss William den Schlüssel heraus
    und steckte ihn mit zittriger Hand ins Schloss. Die Tür ging auf.
    William stolperte fast in die Öffnung, seine Füße ertasteten
    kaum die Eisensprossen, die in die Wand eingelassen waren. So-
    fort überfiel ihn der Gestank, der Gestank nach Kot und Meer
    und maroden Backsteinen, den er gierig einsog. Tränen dräng-
    ten ihm zwischen den zusammengepressten Lidern hervor, als er
    durch die Dunkelheit hastete, die ihn sanft umfing. Endlich
    hatte er die Stelle erreicht; er lehnte sich an die feuchte Wand
    und tastete nach dem Messer. Das Wasser stand hoch, es reichte
    ihm fast bis zu den Knien. Doch das spielte jetzt keine Rolle. Er
    würde nicht lange bleiben. Seine Hände zitterten nicht mehr.
    Mit ruhiger Hand schnitt er sich. Für einen unendlichen Augen-
    blick stand sein Herz still, gebannt von der vollkommenen
    Schönheit der Ekstase,

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