Der Vermesser
aussetzen. Seine Inspektionen waren gründlich
und genau, seine Vorschläge wohl überlegt. Zur großen Genug-
tuung seiner Kollegen wurde ihm schon bald die gesamte Last
der Routineinspektionen aufgebürdet. Von da an verbrachte er
einen Teil des Tages geduckt unter der Granitdecke der Stadt.
Die Monate vergingen. Und noch immer verspürte er diesen
unstillbaren Drang, sich zu verletzen. William merkte, wie sich
die Sucht in ihm aufbaute, wie sie sich schleichend und bedroh-
lich zwischen seinen Rippen ausbreitete. Wenn sich die Schwärze
wie Tinte zwischen den feinen Verästelungen seiner Lunge ver-
teilte und ihre Knöchel in das weiche Fleisch seines Halses drück-
te, verkroch er sich in die unterirdischen Kanäle. Er hätte andere,
leichter zugängliche Orte finden können, wo er sein Verlangen
hätte stillen können, ohne entdeckt zu werden. Zum Beispiel in
dem einzigen, gefliesten Wasserklosett in der Greek Street oder in
der mitternächtlichen Stille seines Hauses in Lambeth, wenn Polly
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und das Kind schliefen. Aber es zog ihn immer in die Tunnel.
Hier waren die moralischen Wertmaßstäbe außer Kraft gesetzt.
Hier galten nicht die strengen und unveränderlichen Verhaltens-
regeln der Menschen oben, die direkt über ihn hinwegeilten und
deren Füße den Granitboden über seinem Kopf berührten. Die
strikten Grenzen zwischen richtig und falsch, Ehrlosigkeit und
Wohlanständigkeit verwischten und verflüchtigten sich hier im
Untergrund. Die Dunkelheit nahm ihn auf, ohne Fragen zu stel-
len oder ihn zu verurteilen, sie umfing ihn in stummer Umar-
mung. Die Dunkelheit kannte keine Neugier und keine Erinne-
rung. Hier gab es nur Stille, Einsamkeit und Sicherheit und jene
unvergleichlich großartige Explosion des Selbstgefühls, wenn
das Messer ins Fleisch eindrang.
Es war ein warmer Abend im Mai, als William wieder ein-
mal in den Untergrund taumelte. Die Stadt döste vor sich hin,
strahlte in sanftem, lilafarbenem Licht, der fahle Himmel durch-
wirkt von Gold und Hellrosa. William bemerkte nichts davon,
als er zum Abwasserkanal in der King Street hastete. Sein Spei-
chel schmeckte sauer, bitter und metallisch. Er atmete in kurzen,
quälenden Stößen. Die Muskeln in seinem Gesicht zuckten. Der
Einstiegsschacht in der Dean Street war verschlossen gewesen.
Minutenlang hatte er sich vergeblich bemüht, den Deckel anzu-
heben, hatte die Finger durch das Eisengitter gezwängt und ver-
sucht, es zu öffnen. Jetzt packte ihn die Schwärze, stieß ihm die
Ellbogen in die Brust und wühlte in seinen Eingeweiden. Sie riss
ihm die Arme auseinander und presste sich bis in die Fingerspit-
zen hinein, drückte mit solch entsetzlicher Gewalt gegen seine
schmutzigen Nägel, dass sich William vor Verzweiflung in die
Finger biss. Der Blutgeschmack in seinem Mund versetzte ihn in
einen solchen Taumel, dass er glaubte, laut aufschreien zu müs-
sen. Er fing an zu rennen. Die Schwärze überflutete seinen Kopf,
und er sah nur noch den nächsten Pflasterstein und wiederum
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den nächsten. Sein Herz nahm den wild hämmernden Rhyth-
mus seiner Stiefel auf. Das Metallgehäuse seiner Laterne schlug
ihm schmerzhaft gegen den Oberschenkel, doch er spürte es
kaum. Er rannte, schneller, immer schneller. Um die nächste
Ecke. Und da war sie, die Baracke der Ausspüler, die wie ein
Schilderhäuschen dastand. William besaß den Generalschlüssel.
Seine Hand zitterte so sehr, dass sie kaum seine Rocktasche fand.
Der Schlüssel hatte sich im Futter verfangen. In blinder Ver-
zweiflung und rasender Hast riss William den Schlüssel heraus
und steckte ihn mit zittriger Hand ins Schloss. Die Tür ging auf.
William stolperte fast in die Öffnung, seine Füße ertasteten
kaum die Eisensprossen, die in die Wand eingelassen waren. So-
fort überfiel ihn der Gestank, der Gestank nach Kot und Meer
und maroden Backsteinen, den er gierig einsog. Tränen dräng-
ten ihm zwischen den zusammengepressten Lidern hervor, als er
durch die Dunkelheit hastete, die ihn sanft umfing. Endlich
hatte er die Stelle erreicht; er lehnte sich an die feuchte Wand
und tastete nach dem Messer. Das Wasser stand hoch, es reichte
ihm fast bis zu den Knien. Doch das spielte jetzt keine Rolle. Er
würde nicht lange bleiben. Seine Hände zitterten nicht mehr.
Mit ruhiger Hand schnitt er sich. Für einen unendlichen Augen-
blick stand sein Herz still, gebannt von der vollkommenen
Schönheit der Ekstase,
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