Der Vermesser
Er vermischte sich mit den stinkenden Nebelschwa-
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den, den Ausdünstungen der Körper, der Fabriken und des Ab-
falls, verband sich mit dem geballten Verkehrsgetümmel und
dem nie endenden Getöse und Geklapper, dass einem Hören
und Sehen verging. In den Kanälen schwamm Dreck, lauerten
die unwägbaren Gefahren der Gezeiten und des Wetterum-
schwungs, doch über allem herrschte eine gewisse Ordnung. In
den Kanälen bildeten Höhe, Spannweite und Gefälle den Maß-
stab, an dem sich ein Mensch messen lassen musste. Wer nie in
die Eingeweide der Hauptstadt hinuntergestiegen war, konnte
sich einen solchen Ort nicht vorstellen, selbst wenn er sein Le-
ben lang in London gelebt hatte. Und wer sich hier unten allein
in der Du k
n elheit a f
u hielt, für den war London nicht mehr vor-
stellbar.
Williams Tätigkeit bestand zum größten Teil aus eintönigen,
sich wiederholenden Verrichtungen, doch diese Regelmäßigkeit
befriedigte und tröstete ihn. Nach und nach erschloss sich ihm
die Anlage des alten Kanalisationsnetzes und dessen weit ver-
zweigtes Labyrinth aus Venen und Arterien. Und langsam – so
langsam, dass er es sich selbst nicht einzugestehen wagte – ließ
auch der Drang nach, sich Verletzungen zuzufügen. Es vergin-
gen zwei Wochen, dann drei, ohne dass er sich schnitt. Die Zeit
verrann fast unmerklich, und die innere Ruhe, die ihn erfüllte,
wenn er sich selbst verletzt hatte, hielt länger vor: einen Tag,
dann mehrere Tage, manchmal eine ganze Woche. Zu Hause in
Lambeth gelang es ihm sogar, beinahe aufmerksam dem Ge-
schwätz seiner Frau zuzuhören und mit dem kleinen William zu
spielen, ohne auf dessen kindliche Wünsche barsch und abwei-
send zu reagieren. Dank des beruhigenden Laudanums fand er
nachts einen sanften und traumlosen Schlaf. Wenn sich Polly auf
seine Seite rollte, schrie er nicht mehr laut auf vor Angst, son-
dern schmiegte sich in die Rundung ihres Körpers und schlief
weiter.
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In den Büroräumen der Greek Street hallte ihm kein Gerede
seiner Kollegen mehr wie ein verzerrtes Echo in den Ohren. Wil-
liam versuchte sich an freundlichen Bemerkungen, und seine
Lippen formten dabei die passenden Worte. Er lächelte, zaghaft
vielleicht, aber im richtigen Augenblick. Für ein herzliches Ver-
hältnis war es zu spät, aber die frostige Kälte, die seine Kollegen
bisher im Umgang mit ihm an den Tag gelegt hatten, erwärmte
sich mit der Zeit auf Zimmertemperatur. May war ein komischer
Kauz und würde es immer bleiben, darin waren sich alle einig.
Aber seine Vergangenheit – die wirkliche wie die ihm unter-
stellte – war nun nicht mehr Gegenstand heimlichen Getuscheis.
Er war ein tüchtiger Bursche, unbescholten und höflich. Was
von ihm verlangt wurde, das tat er, ohne zu murren oder viel
Aufhebens zu machen. Er war es zufrieden, Aufgaben zu über-
nehmen, die andere scheuten. Nach einem Jahr gehörte er zum
Inventar wie die schmalen, längs unterteilten Fenster, die auf
den Soho Square mit seinen graugrünen Büschen zeigten; die
anderen Mitarbeiter der Behörde würden ihn gewiss vermissen,
wenn er eines Tages nicht mehr da wäre, wie sie auch die Fenster
vermissen würden. Doch solange er hier an seinem Platz war,
schenkte man ihm nicht weiter Beachtung.
Anders Bazalgette. Bei mehr als einer Gelegenheit hatten Wil-
liams Sorgfalt und Sinn fürs Detail die Aufmerksamkeit des lei-
tenden Ingenieurs erregt, und er verfolgte seine Tätigkeit mit
Interesse. Die Mehrzahl seiner Mitarbeiter war durchaus qua-
lifiziert, fast alle hatten eine bessere Ausbildung und verfüg-
ten über größere theoretische Kenntnisse im Ingenieurwesen als
May. Aber keiner, der unter seiner Leitung tätig war, ob als Inge-
nieur oder als Vermesser, kannte die Abwasserkanäle Londons in
ihrem jetzigen verwahrlosten Zustand genauer als May. Aus den
Aufzeichnungen ergab sich, dass May bis Ende 1857 mindestens
fünfmal so viel Zeit im Kanalnetz verbracht hatte wie jeder an-
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dere Vermesser. Seine Mauerproben, die das Ausmaß des Ver-
falls dokumentierten und, aus verschiedenen Tunnelabschnitten
und unterschiedlicher Höhe entnommen, in Kisten verpackt und
mit sauberer Handschrift sorgfältig etikettiert waren, füllten fast
einen ganzen Raum im vierten Stock. Als sich Bazalgette der
Frage zuwandte, welcher Backstein und welcher Mörtel am we-
nigsten wasserdurchlässig waren, ließ er seinen Sekretär einen
Tisch in dem besagten Raum
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