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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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dann hämmerte es los. Blut sickerte aus
    seinem Arm. Frohlockend ließ William das Messer sinken, den
    Griff mit der Faust umklammernd. Die Schwärze verharrte noch
    kurz wie das Echo eines

    Schreis in der Luft, ehe sie sich auflöste.
    William war wieder er selbst. Er war frei.
    Wenig später entzündete er die Laterne, um sich auf den
    Rückweg zu machen. Dieser Teil des Kanalnetzes war ihm nicht
    vertraut. Und bald merkte er, dass er sich verlaufen hatte, was
    ihn jedoch nicht weiter beunruhigte. Der Abwasserkanal in der
    King Street besaß mehrere Ausgänge. Einige waren erst vor kur-

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    zem mit einer Falltür versehen worden, die im Notfall von in-
    nen geöffnet werden konnte. Eine solche Tür musste er jetzt nur
    noch finden. Das Wasser stieg immer höher, doch er watete ste-
    tig und ohne Panik weiter, während er sich vorsichtig über den
    unebenen Boden tastete. Das Laternenlicht glitzerte auf der dunk-
    len Wasseroberfläche. An einer Abzweigung angelangt, hielt er
    nur kurz inne, bevor er den Weg einschlug, der ihm am wahr-
    scheinlichsten schien. Nach etwa zehn Minuten stieg der Weg im
    Tunnel an. Zu seiner Verwunderung stank es hier deutlich weni-
    ger nach Exkrementen; stattdessen spürte er ein salziges Aroma
    und einen sanften Hauch zirkulierender Luft. Auch hallte das
    Echo von Williams Stiefeln nicht mehr von den engen Tunnel-
    wänden wider. Er musste ganz nah an der Oberfläche sein. Wil-
    liam hob den Kopf und suchte das Tunnelgewölbe nach einem
    Ausgang ab. Doch er entdeckte nur einen schwarzen steiner-
    nen Bogen, als ob der Tunnel hier endete. Hinter diesem Bogen
    musste sich ein Gitter befinden. William kroch darauf zu, die
    Laterne hoch über dem Kopf haltend.
    Nirgends ein Gitter. Doch William hatte bereits vergessen, wo-
    nach er suchte, denn was sich seinem Blick bot, schlug ihn derart
    in Bann, dass er staunend innehielt. Vor ihm erstreckte sich eine
    gewaltige Kammer, etwa neun Meter lang, mit einer Decke so
    hoch wie in einer Kathedrale. Die Kammer hatte keinen Boden.
    William sah vor sich nur eine ausgedehnte schwarze Wasserflä-
    che, glatt und makellos glänzend wie polierter Schiefer, etwas ab-
    gerückt von den Wänden und doch mit ihnen ein vollkommenes
    Rechteck bildend. Zu beiden Seiten glitt murmelnd das Wasser
    in hauchfeinen, silbernen Bahnen den porösen Backstein hinun-
    ter. Auf der einen Seite dieses Sees bestand die Mauer aus grauen
    Granitplatten, in denen Glimmer funkelte wie winzige Sterne.
    Auf der anderen ragte eine mächtige Backsteinwand empor, so
    gleichmäßig mit Salpeter überzogen, als wäre sie aus flüssiger

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    Bronze gegossen; abgeschrägte gotische Bogen wölbten sich über
    gemauerten Fenstereinlassungen. Aus der wie Glas schimmern-
    den Wasserfläche ragten acht steinerne Pfeiler empor, achteckige
    Säulen so schlank und silbrig wie Birkenstämme, deren Äste sich
    sechs Meter über dem Wasser zu einem Baldachin aus Bogen zu-
    sammenschlossen. Aus diesen Bogen wiederum erwuchsen Sta-
    laktiten, die wie Gehänge aus makellosem Elfenbein im Schein
    der Laterne weißgolden schimmerten.
    William stockte der Atem. Bis auf das Flüstern des Wassers
    herrschte in der Kammer absolute Stille. Eine unwirkliche Sze-
    nerie. Vollkommen irreal. William stand wie verzaubert da und
    wusste, er blickte in sein eigenes Herz. Nie mehr würde er an
    diesen Ort zurückkehren, das war gewiss. Wenn er ihn suchte,
    würde er ihn nicht wiederfinden, oder er hätte sich verändert
    und wäre ihm damit verloren in einer Weise, die er nicht ertra-
    gen könnte. Aber er wusste auch, dass er diesen Ort, der durch
    seine Existenz seine eigene Existenz erst möglich machte, für im-
    mer in sich bewahren würde.

    Im Laufe der Monate, die sich zu einem und noch einem Jahr
    aneinander reihten, wurden die Tunnel für William immer le-
    benswichtiger: Sie wurden für ihn zu dem einzigen Ort, wo die
    Welt beständig war. Er unternahm keinen Versuch, die Kammer
    wiederzufinden. Es genügte ihm zu wissen, dass es sie gab. In
    den Tunneln konnte er leichter atmen. Er hatte nie verstanden,
    warum sich einige seiner Kollegen vor dem Gestank dort un-
    ten ekelten. Für ihn war der Geruch in der kalten Reinheit der
    Finsternis unendlich erträglicher als die Luft auf den Straßen da-
    rüber. Der Geruch in den Kanälen war klar und unvermittelt.
    Der Pesthauch der Exkremente auf den Straßen hingegen zählte
    zu den vielen Feinden, die den Menschen auflauerten, um sie
    zu peinigen.

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