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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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erinnerte. Zwei Straßenecken weiter öffnete sich die
    Gasse auf einen kleinen Hof. Das würde reichen. Die Kragen-
    knöpfe des Mannes glänzten im schwachen Mondschein. Blitz-

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    schnell zog Tom sie heraus und ließ sie in seine Tasche gleiten. Er
    besann sich kurz, nahm dann auch noch das Taschentuch und
    steckte das blutverkrustete Messer wieder zurück in die nasse Ho-
    sentasche des Mannes. Selbst wenn jemand den Kerl hier ent-
    deckte, bevor er erfroren a
    w r, würde e
    r ihn links liegen lassen.
    Darin lag eine gewisse Genugtuung.
    Noch während Tom sich aufrichtete, zog der Verrückte die
    Knie an die Brust und blieb wie ein kleines Kind zusammen-
    gekrümmt liegen. Tom spuckte angewidert auf den Boden ne-
    ben seinem Kopf aus und lief in den Tunnel zurück, um Lady zu
    holen.

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XIII

    E s waren zwei Kohlenträger, die William wenige Stunden vor
    Sonnenaufgang fanden, als sie sich ihren Weg durch die Gassen
    zum Fluss bahnten. Auch im Winter mussten sie schon um fünf
    Uhr früh mit der Arbeit beginnen und im roten Schein hängen-
    der Kohlenbecken die Kohleladungen auf dem Rücken von den
    Schiffen zu den Fuhrwerken schleppen. So auch an diesem Mor-
    gen. Als sie William zusammengekrümmt auf der Erde liegen sa-
    hen, weiß bestäubt vom frischen Schnee, hielten sie ihn zuerst
    für einen Abfallhaufen. Einer der Männer stupste ihn im Vorbei-
    gehen mit dem Stiefel an. Dadurch geweckt, rief William kaum
    hörbar um Hilfe. Normalerweise hätten die beiden auf so etwas
    überhaupt nicht reagiert. Es war nicht ihre Art, irgendetwas um-
    sonst zu tun, und William, schmutzstarrend und h

    alb erfroren,
    versprach nicht gerade Aussicht auf Gewinn.
    Doch William hatte Glück. Auf ihrem Weg hatten die zwei
    schon eine Weile heftig gestritten, wer von ihnen der Stärkere sei.
    Und so schlug der Größere der beiden, ein Riesenkerl in einem
    geteerten kurzen Fuhrmannskittel und einer geflickten Man-
    chesterhose, die ihm bis zu den Knien reichte, jetzt vor, seine
    Überlegenheit dadurch unter Beweis zu stellen, dass er den Ver-
    letzten auf der Schulter bis zur Brücke trüge. Wie bei Kohlenträ-
    gern üblich, hatten die beiden am Abend zuvor ihren Tageslohn
    ausbezahlt bekommen – allerdings nicht durch den Kaimeister,
    sondern dessen Bruder, den Gastwirt, der die Arbeiter gern auf
    ihr Geld warten ließ und ihnen in der Zwischenzeit etwas zu
    trinken auf Pump anbot. Der Schmächtigere der beiden hatte

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    zwar kaum mehr etwas von seinem Lohn in der Tasche, dafür
    aber viel Bier im Bauch. Immerhin reichte das Geld noch für
    eine ordentliche Wette, die sogleich abgeschlossen wurde. Fröh-
    lich pfeifend, um zu zeigen, wie leicht es ihm fiel, hievte sich der
    Hüne William umstandslos wie einen Sack Kohle auf die Schul-
    tern. Im Rhythmus der Schritte schlug William mit seiner fiebrig
    heißen Stirn an den Rücken des Mannes, als dieser Richtung Sü-
    den losstapfte, während sich der Schmächtigere beeilen musste,
    um Schritt zu halten. Der unablässig fallende Schnee legte sich
    auf den Nackenschutz des Hutes, den der Hüne auf dem Kopf
    trug. Wenn ihm seine Last schwer wurde, so ließ er es sich jeden-
    falls nicht anmerken. In der Thames Street streckte er bereits
    seine kohlschwarze Hand aus, um seinen Gewinn einzufordern,
    noch ehe er William mit einer schwungvollen Bewegung herun-
    terließ und sich nach einer geeigneten Stelle umblickte, wo er
    ihn ablegen konnte.
    »Nu mach endlich«, drängte der Schmächtigere, ärgerlich,
    dass er die Wette verloren hatte. »Wenn wir zu spät kommen,
    werden sie uns einheizen.«
    Der Hüne schob den Hut in den Nacken und kratzte sich am
    Kopf. Die Last auf seinem Rücken war nicht schwerer gewesen
    als jedes andere Gewicht, das es zu stemmen galt, eher noch ein
    gutes Stück leichter als ein Sack Kohle, jetzt, da er dem Mann ins
    Gesicht sah, begriff er, dass diese Last immerhin ein Mensch war,
    ein Mensch, dem er einen ordentlichen Gewinn verdankte. Er
    hörte ihn stöhnen, kläglich und hoffnungslos wie einen kranken
    Säugling.
    »Kann ihn doch nicht einfach hier liegen lassen«, sagte der
    Hüne.
    Er blickte um sich. Im schneeumwehten Licht einer Gaslampe
    entdeckte er eine wackelige Treppe hinunter zum Fluss und un-
    ter einem Schild, das Spaziergänger zu Sitte und Anstand er-

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    mahnte, eine schmale Holzbank. Der Hüne wischte mit seiner
    Riesenpranke den Schnee beiseite, schulterte den Mann erneut
    und setzte seine Last dann auf einem Ende der

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