Der Vermesser
erinnerte. Zwei Straßenecken weiter öffnete sich die
Gasse auf einen kleinen Hof. Das würde reichen. Die Kragen-
knöpfe des Mannes glänzten im schwachen Mondschein. Blitz-
181
schnell zog Tom sie heraus und ließ sie in seine Tasche gleiten. Er
besann sich kurz, nahm dann auch noch das Taschentuch und
steckte das blutverkrustete Messer wieder zurück in die nasse Ho-
sentasche des Mannes. Selbst wenn jemand den Kerl hier ent-
deckte, bevor er erfroren a
w r, würde e
r ihn links liegen lassen.
Darin lag eine gewisse Genugtuung.
Noch während Tom sich aufrichtete, zog der Verrückte die
Knie an die Brust und blieb wie ein kleines Kind zusammen-
gekrümmt liegen. Tom spuckte angewidert auf den Boden ne-
ben seinem Kopf aus und lief in den Tunnel zurück, um Lady zu
holen.
182
XIII
E s waren zwei Kohlenträger, die William wenige Stunden vor
Sonnenaufgang fanden, als sie sich ihren Weg durch die Gassen
zum Fluss bahnten. Auch im Winter mussten sie schon um fünf
Uhr früh mit der Arbeit beginnen und im roten Schein hängen-
der Kohlenbecken die Kohleladungen auf dem Rücken von den
Schiffen zu den Fuhrwerken schleppen. So auch an diesem Mor-
gen. Als sie William zusammengekrümmt auf der Erde liegen sa-
hen, weiß bestäubt vom frischen Schnee, hielten sie ihn zuerst
für einen Abfallhaufen. Einer der Männer stupste ihn im Vorbei-
gehen mit dem Stiefel an. Dadurch geweckt, rief William kaum
hörbar um Hilfe. Normalerweise hätten die beiden auf so etwas
überhaupt nicht reagiert. Es war nicht ihre Art, irgendetwas um-
sonst zu tun, und William, schmutzstarrend und h
alb erfroren,
versprach nicht gerade Aussicht auf Gewinn.
Doch William hatte Glück. Auf ihrem Weg hatten die zwei
schon eine Weile heftig gestritten, wer von ihnen der Stärkere sei.
Und so schlug der Größere der beiden, ein Riesenkerl in einem
geteerten kurzen Fuhrmannskittel und einer geflickten Man-
chesterhose, die ihm bis zu den Knien reichte, jetzt vor, seine
Überlegenheit dadurch unter Beweis zu stellen, dass er den Ver-
letzten auf der Schulter bis zur Brücke trüge. Wie bei Kohlenträ-
gern üblich, hatten die beiden am Abend zuvor ihren Tageslohn
ausbezahlt bekommen – allerdings nicht durch den Kaimeister,
sondern dessen Bruder, den Gastwirt, der die Arbeiter gern auf
ihr Geld warten ließ und ihnen in der Zwischenzeit etwas zu
trinken auf Pump anbot. Der Schmächtigere der beiden hatte
183
zwar kaum mehr etwas von seinem Lohn in der Tasche, dafür
aber viel Bier im Bauch. Immerhin reichte das Geld noch für
eine ordentliche Wette, die sogleich abgeschlossen wurde. Fröh-
lich pfeifend, um zu zeigen, wie leicht es ihm fiel, hievte sich der
Hüne William umstandslos wie einen Sack Kohle auf die Schul-
tern. Im Rhythmus der Schritte schlug William mit seiner fiebrig
heißen Stirn an den Rücken des Mannes, als dieser Richtung Sü-
den losstapfte, während sich der Schmächtigere beeilen musste,
um Schritt zu halten. Der unablässig fallende Schnee legte sich
auf den Nackenschutz des Hutes, den der Hüne auf dem Kopf
trug. Wenn ihm seine Last schwer wurde, so ließ er es sich jeden-
falls nicht anmerken. In der Thames Street streckte er bereits
seine kohlschwarze Hand aus, um seinen Gewinn einzufordern,
noch ehe er William mit einer schwungvollen Bewegung herun-
terließ und sich nach einer geeigneten Stelle umblickte, wo er
ihn ablegen konnte.
»Nu mach endlich«, drängte der Schmächtigere, ärgerlich,
dass er die Wette verloren hatte. »Wenn wir zu spät kommen,
werden sie uns einheizen.«
Der Hüne schob den Hut in den Nacken und kratzte sich am
Kopf. Die Last auf seinem Rücken war nicht schwerer gewesen
als jedes andere Gewicht, das es zu stemmen galt, eher noch ein
gutes Stück leichter als ein Sack Kohle, jetzt, da er dem Mann ins
Gesicht sah, begriff er, dass diese Last immerhin ein Mensch war,
ein Mensch, dem er einen ordentlichen Gewinn verdankte. Er
hörte ihn stöhnen, kläglich und hoffnungslos wie einen kranken
Säugling.
»Kann ihn doch nicht einfach hier liegen lassen«, sagte der
Hüne.
Er blickte um sich. Im schneeumwehten Licht einer Gaslampe
entdeckte er eine wackelige Treppe hinunter zum Fluss und un-
ter einem Schild, das Spaziergänger zu Sitte und Anstand er-
184
mahnte, eine schmale Holzbank. Der Hüne wischte mit seiner
Riesenpranke den Schnee beiseite, schulterte den Mann erneut
und setzte seine Last dann auf einem Ende der
Weitere Kostenlose Bücher