Der Vermesser
die Ellbogen. In der offenen Tür stand un-
schlüssig der kleine William; das zerzauste Haar umrahmte sein
schläfriges Gesicht. Mit großen Augen lugte er hinter der Woll-
decke hervor, die er zusammengeknüllt in den Armen hielt. Der
starre Blick seines Sohnes versetzte William in ängstliche Be-
klemmung, und er n
k iff die Augen fe t z
s
sammen.
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»Polly!«, rief er noch einmal, diesmal drängender.
Ohne die Augen zu öffnen, hörte er, wie Polly dem Kleinen et-
was zumurmelte, und ihre Röcke raschelten, als sie aufsein Bett
zukam. Ihre Schritte waren schwer, und sie atmete angestrengt.
Als sie seine Stirn berührte, zuckte er zusammen.
»William? Bist du ... bist du wach?«
William öffnete den Mund, doch schwindelig vor namenlo-
ser Angst, vermochte er nicht zu sprechen. Er nickte stumm, die
Augen imm
er noc fes
h
t geschlossen.
»Wasser. Trink doch einen Schluck Wasser.«
Ihre Hand hob seinen Kopf, bis seine Lippen den Rand einer
Tasse berührten. Er trank ein wenig, verschluckte sich und musste
husten. Polly griff nach seiner schlaffen Hand und drückte einen
Kuss darauf.
»Ach, Liebster! Wie bin ich ... aber das Fieber ist fast weg. Al-
les ist gut. Es wird schon wieder werden.« Polly gab sich fröhlich,
doch in ihrer Stimme lag etwas Schrilles, das William in der
Brust schmerzte. »Und du musst essen, damit du wieder zu Kräf-
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ten kommst. Vielleicht ein paar Löffel Suppe? Etwas Käse?« Wil-
liam schüttelte den Kopf. Behutsam legte Polly seine Hand zu-
rück auf die Bettdecke. »Dann vielleicht später. Ach Di, mein
Engelchen, alles wird gut werden! Aber jetzt ab mit dir. Dein
Papa ist sehr erschöpft. Wir müssen ihn schlafen lassen.«
William öffnete die Augen erst wieder, als er die beiden in der
Küche hörte. Wie immer war der kleine William die letzten drei
Stufen mit einem Satz hinuntergesprungen, sooft Polly ihn des-
wegen auch schon gescholten hatte. Das wackelige Treppenge-
länder schepperte, dann war alles still. Er wollte allein sein, sich
im Schlaf verlieren. Im Wachen quälte sich sein Geist mit Fra-
gen, und die Antworten streiften ihn wie böse Geister, so dass
ihm der kalte Schweiß ausbrach. Aber es gab doch Gewissheiten,
wies er sich zurecht. Unumstößliche Gewissheiten. Er war in
Lambeth. Der Krieg war vorbei. Er konnte also unmöglich durch
gefrorene Schützengräben gestolpert sein, auch wenn ihm die
Schreckensbilder noch lebhaft vor Augen standen. Es waren nur
Träume, wüste Fieberfantasien. Er hatte eine Frau, einen Sohn,
eine bescheidene, aber achtbare Stellung in der städtischen Be-
hörde für öffentliche Bauvorhaben. Er war Inspekteur der Ab-
wasserkanäle. Die Abwasserkanäle. Das Wort legte sich lähmend
auf seine Brust und beschwor Erinnerungsfetzen herauf: die stei-
gende Flut, das Gewicht der durchweichten Hose, das ihn nach
unten zog, die Umrisse des Messers in seiner Hand, die fallenden
Körper von Soldaten ...
Reflexartig tastete er mit der Hand nach seinem Arm. Ein po-
chender Schmerz, den er bisher nicht bemerkt hatte. Unter dem
Ärmel seines Nachthemds verlief vom Handgelenk bis zum Ell-
bogen ein dicker Verband. Williams Finger erstarrten. Er zö-
gerte. Am besten ließ er die Bandage an Ort und Stelle, denn
wenn die Wunden noch offen waren, bestand die Gefahr einer
Infektion. Doch vielleicht hatte er nur ein paar Kratzer. Wäre es
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nicht aufschlussreich, wenn es nur Kratzer wären? Die Möglich-
keit bestand immerhin.
Mit einem heftigen Ruck riss William den Verband herunter.
Die frischen Wunden waren mit schwarzem Schorf bedeckt, da-
zwischen leuchtende Perlen frischen Bluts, wo der Schorf durch
die hastige Bewegung aufgerissen war. Die ohnehin von glänzen-
den Narben übersäte Haut hatte sich zusammengezogen. Die
Schnitte waren so dicht verschorft, dass William das verblas-
sende Rosa des Buchstabens »W« darunter kaum erkennen
konnte. Einer der Schnitte war besonders tief und verlief um den
ganzen Arm herum› gleichsam als hätte sich die Klinge auf ma-
kelloser Haut abwischen wollen. Zwischen den klaffenden Wun-
den waren etwa zwölf kleinere Schnitte zu sehen, dicht gedrängt
und jeweils etwa zwei Zentimeter lang. Sie heilten schlecht. Die
Ränder waren geschwollen und gelb von nässendem Eiter. Wil-
liam zuckte vor Schmerz zusammen, als er mit den Fingern
behutsam darüberstrich. Es waren tiefe, sehr tiefe Wunden. Ein
flach an den Arm gehaltenes Messer
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