Der Vermesser
Bank ab. Der
Kopf sackte William auf die Brust, und die Beine hingen ihm
schlaff herunter, aber er blieb halbwegs aufrecht sitzen.
»Na dann los«, meinte der Hüne, der es plötzlich ebenso eilig
hatte wei e
t rzukommen wie sein Freund, und schon waren beide
in der Dunkelheit verschwunden.
William blieb in der Thames Street zurück, von Kälte und
Fieber geschüttelt, und obwohl er gelegentlich die Augen auf-
schlug, erkannte sein leerer Blick nicht, wo er sich befand. In sei-
nem rastlosen Delirium wähnte sich William wieder in Balak-
lawa und bettelte inständig um einen Tropfen Wasser, während
das Maultier, auf das man ihn gelegt hatte, durch den gefrore-
nen Schlamm Richtung Hafen trottete, zu dem Schiff, das ihn
nach Skutari bringen würde. Es war stockdunkel, es schneite,
und bei jeder Erschütterung durchzuckten ihn tausend atemlose
Schmerzstöße. Von überall hörte man das verzweifelte Flehen
der anderen Verwundeten. Dieses Wimmern umhüllte ihn wie
dicke Schneeflocken, drang ihm in die Ohren und kroch unter
seinen zerlumpten Rock. Doch die türkischen Träger schienen
wie taub. Sie rauchten und scherzten lautstark miteinander in
ihrer unverständlichen Sprache. Ihre dunklen Gesichter ver-
schwammen ihm vor den Augen, ihr schmutziges Lachen war
warm vom heraussickernden Blut der Soldaten. Als schließlich
sein Maultier stürzte und William zu Boden fiel, setzte ihn
jemand wie eine Puppe aufrecht in den Schnee. Der Türke war
riesig, groß wie zwei Männer. Er beugte sich über William, als
taxierte er seinen Wert, die schwarzen Hände erhoben. Sein
schlaffer Mund stand offen, die Augen unter der Hutkrempe rot
vor Gier. William zuckte zurück. Matt dachte er daran, um Hilfe
zu rufen, aber die ganze Welt war irgendwie entschwunden, und
185
der Lärm des Hafens presste sich ihm wie eine Faust auf den
Hinterkopf. Ansonsten herrschte Stille in seinem leeren Schädel,
unterbrochen nur durch das Ächzen des eisigen Windes, der di-
cke Schneeflocken durch die Ödnis trieb. Hier war nichts. Hier
würde er erfrieren, und wenn später wieder jemand an diese
Stelle kam, würde nichts mehr da sein. Selbst seine Knochen
würden vom Nichts zermalmt, bis sie selbst ein Nichts wären.
Hier, am Rande allen Seins, gab es keinen Gott. Und auch keinen
Teufel. Es gab nur das Vergessen. Man konnte sich abwenden,
wenn man die Kraft dazu hatte. Man konnte sich zum Lärm und
zum pulsierenden Licht durchkämpfen, mit Bajonett und blo-
ßen Fäusten gegen Qual und Leid anrennen, bis es einen ver-
schlang. Oder man konnte sich in der Schwärze niederlegen und
sich dem Wind überlassen, dessen eisiger Atem den Schmerz
und das Fieber und den unerträglichen Durst lindern würde.
Man musste nur loslassen.
»Wer sind Sie?«, fragte ihn die Dunkelheit keineswegs un-
freundlich und umfasste sanft sein Gesicht mit ihren frostigen
Fingern. Haben
»
Sie eine Frau? Wird sie sich nicht Sorgen ma-
chen, wo Sie bleiben?«
William dachte an Polly, an ihre weichen, kastanienbraunen
Locken und an das Muttermal auf ihrem Nacken, das aussah wie
ein Spritzer Schokolade, und der Schmerz bohrte sich ihm zwi-
schen die Rippen. Er wandte den Kopf, damit das Ächzen des
Windes seine Ohren füllte. Er wollte nichts mehr hören. Es exis-
tierte kein Mann mit dem Namen William May mehr. Hatte es
ihn überhaupt jemals gegeben? Für einen kurzen Augenblick
war in der kalten Dunkelheit fiebrige Hitze aufgeflammt. Und
jetzt würde er, der nichts war, ins Nichts zurückkehren. Es war
vorbei. Die Dunkelheit schwappte über ihm zusammen wie
Wasser.
186
William wurde geblendet von dem grellen Licht. Er zuckte zu-
rück, kniff die Augen zusammen und wandte den Kopf ab. Eine
Bewegung, die in seinem Hinterkopf eine Granate aus Schmerz
explodieren ließ. Er hatte Schüttelfrost, doch seine Stirn war sie-
dend heiß. Er lag auf dem Rücken, die Arme auf merkwürdige
Weise an den Körper gezwängt, so dass die Hände neben seinen
Oberschenkeln zuckten wie gestrandete Fische. Die Helligkeit
drückte ihm gegen die geschlossenen Lider und überschwemmte
sie mit einer heimtückischen Röte. Beine, Hals und Zähne taten
ihm weh, und als er versuchte, zu schlucken und Speichel in die
ausgetrocknete Kehle zu pressen, li
b eb ihm die Zunge am Gau-
men kleben.
»Wasser«, murmelte er, an den Türken gewandt. »Wasser,
bitte.«
Dann plötzlich strich ihm etwas Warmes, angenehmes Kühles
über die
Weitere Kostenlose Bücher