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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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zitterte. Dann
    gaben seine Knie nach. Der Boden war hart und zerfurcht. Raw-
    linson beugte sich einen Moment über ihn, knöpfte ihm die
    Kleider auf und bettete ihn zum Schlaf. Dann war er verschwun-
    den. May legte den Kopf in den gefrorenen Schlamm und schloss
    die Augen.

    174

XII

    D as Auftauchen des Fremden hatte Tom gehörig aus der Fas-
    sung gebracht. Es war schon spät, und der Wasserpegel stieg,
    weshalb er sich in Sicherheit wiegte, dass ihnen die Abwasser-
    kanäle jetzt allein gehörten. Er wollte nur noch einmal schnell
    hinunter, denn der Kampfstand kurz bevor, und Lady sollte aus-
    geruht sein. Doch dann verfiel er auf die Idee, etwas wie einen
    Glücksbringer für sie zu suchen. Der Gedanke ergriff Besitz von
    ihm wie Unkraut, das alles überwuchert. Es brauchte nichts Be-
    sonderes zu sein. Eine Münze vielleicht, die er ihr wie ein Me-
    daillon um den Hals binden würde. Er hatte nicht vor, sich große
    Umstände zu machen. Erst als er in die Nähe seines Reviers
    kam, das er früher regelmäßig durchstreift hatte, fand er, dass es
    nichts schaden konnte, wie in früheren Tagen unter ein paar
    Gitterrosten herumzusuchen. Schließlich blieb noch genügend
    Zeit, und als Kanaljäger hatte er gelernt, seinem Instinkt zu fol-
    gen. Man wusste ja nie, was man aufstöbern würde.
    Er befand sich unmittelbar unter dem Gitter am östlichen
    Ende des Regent Circus, als er ihn hörte. Es war ein komplizier-
    ter Schacht mit einem langen Gully, so dass man sich, um die
    Hand in den Schlamm zu tauchen, auf einen Mauersims legen
    und den Arm fast bis zur Schulter in den Dreck stecken musste.
    Lady lag lautlos auf Toms Rücken und verlagerte jedes Mal,
    wenn er sich bewegte, das Gewicht. Er konnte sich nicht erin-
    nern, wann er hier das letzte Mal nach etwas Verwertbarem he-
    rumgefischt hatte. Gewöhnlich machte man an dieser Stelle ganz
    ordentliche Funde. An der Kreuzung zur Shaftesbury Avenue gab

    175
    es einen Droschkenstand, und was hier in den Schmutz fiel,
    blieb meist achtlos liegen. Dennoch war Vorsicht geboten. Das
    Gitter führte direkt von der Straße aus hinunter, und wenn die
    Polypen zwischen ihren Stiefeln zufällig einen Blick in die Tiefe
    warfen, konnte man von Glück reden, wenn sie einem nicht di-
    rekt ins Gesicht starrten. Die kleinste falsche Bewegung, und sie
    würden über ihn herfallen. In dem ohrenbetäubenden Verkehrs-
    lärm konn e
    t eine
    m leicht entgehen, wenn jemand von hinten
    kam.
    Um diese Schritte zu überhören, musste man allerdings stock-
    taub sein. Tom zog den Arm mit einer leichten Drehbewegung
    heraus, damit der Schlamm kein Geräusch verursachte, ließ sich
    den Sims entlang ins Wasser gleiten und hob Lady auf den Arm.
    Das Wasser stand hoch, zu hoch. Besser, er schlüpfte durch den
    Gully hinaus. Lady leckte ihm das Ohr, aber er wehrte sie ab, um
    zu lauschen. Sie hatten Glück. Das Geräusch kam aus östlicher
    Richtung. Wendig wie ein F

    isch schlug Tom in der schwarzen
    Flut die westliche Richtung ein und watete auf die Höhle zu.
    Die Höhle war ein niedriger, etwas erhöht liegender Raum,
    eine lange, flache Stufe oberhalb des Hauptkanals, wahrschein-
    lich einmal die Mündung eines Zuflusses. Vor vielen Jahren, als
    Tom noch ein Kind war, fand hier ein alter Kanaljäger, so er-
    zählte man sich, einen im Schlamm vergrabenen Anker, mit dem
    er sein Glück machte. Er verkaufte ihn an den Staat; bis heute, so
    die Geschichte, werde der Anker in einer Glasvitrine aufbe-
    wahrt, irgendwo drüben in Greenwich, wo die Leute einen Shil-
    ling bezahlten, um ihn zu begaffen. Tom zweifelte zwar an der
    Wahrheit dieser Geschichte, aber solange er denken konnte,
    hatte es in dieser Höhle nie Wasser gegeben. Und ohne von Was-
    ser durchspült zu werden, musste die Höhle verrotten. Schon
    nach wenigen Metern versperrte herabgestürztes Mauerwerk
    den Weg. In den letzten Jahren hatte ein weiterer Einsturz auch

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    den Zugang fast ganz verschüttet, und so konnte niemand, der
    nicht eingeweiht war, hier eine Höhle vermuten. Allerdings war
    sie so niedrig, dass man darin nur kauern konnte, aber sie war
    immer trocken, auch bei Flut. Hier würden sie eine Zeit lang in
    Sicherheit sein, das wusste Tom. Er setzte Lady ab und lehnte
    sich gegen die Mauer. Hund und Herrchen atmeten schwer.
    Der Mann kam näher. Er bemühte sich nicht, leise zu sein,
    vielmehr brabbelte er unablässig vor sich hin und gab ein merk-
    würdig gepresstes Stöhnen von sich wie eine

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