Der Vermesser
ist so dunkel.«
Das war mehr gehaucht als gesprochen. Der Mann hatte also
den Kopf nicht unter Wasser. Aber er lag immer noch da und
machte keine Anstalten, wieder auf die Beine zu kommen. Das
Wasser stieg inzwischen noch schneller. Wenn ihm niemand
half, würde es binnen einer Stunde über ihm zusammenschwap-
pen. Würden dann ganze Suchtrupps hier herunterkommen,
um nach dem Ertrunkenen zu suchen? Tom war unschlüssig.
Lady stupste ihn mit der Schnauze. Schließlich öffnete er die
Blende seiner Laterne.
Es war kein Polyp. Tom atmete erleichtert auf. Aber wer im-
mer es war, er befand sich in einem erbärmlichen Zustand, so
viel stand fest. Er hatte seinen Hut verloren; Haare und Backen-
bart waren so mit Schlamm und Kot verklebt, dass man nicht sa-
gen konnte, welche Farbe sie hatten. Sein kreidebleiches Gesicht
war überzogen mit Schlamm. Das Merkwürdigste aber war seine
Kleidung. Die Herren, die vom Parlament hier herunterkamen,
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waren vom Scheitel bis zur Sohle in gefettetes Leder gewandet –
wohl aus Angst, ihre zarten Hände könnten durch einen Spritzer
Kot besudelt werden. Anders dieser Mann. Seine Kleidung war
völlig durchnässt und starrte vor Schmutz und Unrat aus den
Abwasserkanälen; er trug normale Straßenkleidung, einen Woll-
mantel und eine Halsbinde, und die Sachen waren nicht einmal
geflickt. Sein Hemd hatte vorn Knöpfe, richtige Knöpfe, und in
seiner Halsbinde steckte eine Nadel. Allem Anschein nach aus
Gold, dachte Tom
und begutachtete sie i
m t dem geübten Blick
des Kanaljägers. Wer zum Teufel war dieser Mann?
Und dann, wie aus heiterem Himmel, schlug der Kerl die
Augen auf und starrte Tom an. Sein Blick war so eindringlich, als
wollte er sich sein Gesicht für alle Ewigkeit einprägen. Der Hin-
kende Gil hatte drei Monate in Millbank gesessen. Tom stockte
der Atem.
»Mr. Rawlinson?«
Die Worte waren glasklar, laut und deutlich. Tom stutzte.
Unverkennbar die Stimme eines feinen Herrn, aber sonst ließ
nichts an ihm auf einen Gentleman schließen. Um es gerade-
heraus zu sagen: Der Mann war komplett verrückt, schätzte
Tom. Das grimassenhafte Lächeln und das Augenrollen, die be-
schwörende Geste, mit der er die Arme in die Luft streckte –
man konnte sich dieses Geschöpf unschwer neben anderen
Irren auf dem schmutzigen Strohboden eines Tollhauses vor-
stellen.
»Sind Sie es, Mr. Rawlinson?«
Der Mann zupfte ihn am Ärmel. Tom verzog das Gesicht. Kein
vernünftiger Mensch würde auf ein solches Gefasel etwas geben,
selbst wenn sich sein konfuser Geist später an irgendetwas erin-
nern sollte. Es kam jetzt einzig und allein darauf an, den Mann
so schnell wie möglich aus den Kanälen zu schaffen. Nach kur-
zem Zögern nickte Tom.
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»Ganz recht«, sagte er und hielt die Laterne so nah an das Ge-
sicht des Mannes, dass er geblendet wurde. Man
nnt
ko
e nicht
vorsichtig genug sein. »Rawlinson. Ja, das bin ich.«
Im grellen Licht kniff der Mann die Augen zusammen.
»Ist ... ist das die Morgendämmerung?«
Tom musste unwillkürlich grinsen. Der Kerl war überge-
schnappt, sonnenklar. Er würde Tom eher für das Nilpferd im
Zoo halten als ihn bei den Polypen verpfeifen. Tom packte den
Mann unter den Achseln, hievte ihn auf die Beine und legte sich
seinen Arm um die Schultern. Der Kerl würde Tom nicht viel
Mühe bereiten, trotz seiner triefend nassen Kleidung. Er war ja
nur Haut und Knochen.
»Bleib hier, Lady«, murmelte Tom und beugte sich zu der
Hündin hinunter. »Braves Mädchen. Bin gleich wieder da.«
So schnell er konnte, schleppte er den Mann durch den Tun-
nel. Der Fremde ließ den Kopf auf Toms Schulter sinken. Sie wa-
ren fast schon am Ke ler angelang
l
t, als er erneut losbrabbelte.
»Wir müssen sie begraben«, sagte er laut nd
u
vernehmlich.
»Die Toten.«
Gemächlich wie ein Schlafwandler griff er in seine Tasche und
zog ein Messer heraus, dessen Klinge rotbraun war von getrock-
netem Blut. Tom zuckte erschrocken zusammen. Er spürte Wut
im Bauch. Schnell entwand er dem verrückten Kerl das Messer
und schubste ihn durch den Spalt in den Keller. Auf dem schmut-
zigen Boden sank der Mann zusammen, doch Tom packte ihn an
den Handgelenken und zerrte ihn die flachen Kellerstufen hoch
auf die Gasse. Sein Kopf polterte gegen die Stufen wie ein Fuß-
ball. Tom wünschte ihm, dass es kräftig wehtat. Er musste den
Mistkerl so weit vom Keller wegzerren, dass er sich nie mehr an
den Ort
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