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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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Stirn, umfasste seinen Kopf und hob ihn an. Eine Tasse
    wurde ihm an die Lippen gehalten. William trank. Als er schluck-
    te, schien das Wasser nicht nur in die Kehle zu rinnen, sondern
    auch aufwärts ins Gehirn, wo es dessen ausgedörrte Windungen
    benetzte. Die blutunterlaufenen Augenr d
    än er verdunkelten sich
    zu ein m T
    e
    aubengra .
    u
    »Tesekkür ederim«, flüsterte er. »Danke.«
    Die Zeit verging. Das Licht kam und verschwand. Wie halb
    vergessene Träume zerrten Geräuschfetzen an seiner Erinnerung,
    bevor sie sich wieder verflüchtigten und erneut Stille eintrat. Er
    fröstelte, dann wieder glühte er fiebrig heiß, und der unaufhör-
    lich strömende Schweiß überzog seine Haut mit einer salzigen
    Kruste. Groteske Bilder irrlichterten durch seinen Kopf. Seine
    Mutter, die sein Gesicht streichelte und mit den Fingerspit-
    zen die goldene Perle eines Sonnenstrahls auf seiner Wange be-
    rührte, während ihn sein Sohn anblickte, die starren Augen im
    rußigen Licht einer Binsenlampe tief umschattet. Pollys rosafar-

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    bener Mund, der das Wort Meath hauchte, den Namen des
    einbeinigen irischen Soldaten. Hawke, den Bart mit Speichel be-
    netzt, der im Lieblingssessel seines Vaters saß, ein grünes Rech-
    nungsbuch aufgeschlagen im Schoß. Alfred England, der ihm,
    beflissen lächelnd, einen Teller Kuchenstücke reichte, die aus
    Londoner Lehm gebacken waren.
    Und ganz weit hinten, verschwommen im endlosen Dämmer-
    licht, Mr. Bazalgette, die Finger an den Lippen. Versuchen Sie sich
    zusammenzunehmen, May, murmelte der große Ingenieur. Ein
    Ingenieur muss im Durcheinander seiner natürlichen Instinkte
    Ordnung schaffen. Ordnung, May, wenn ich bitten darf. William
    konnte zwar Bazalgettes Gesicht nicht sehen, aber seine um-
    schatteten Augen waren unentwegt auf ihn gerichtet, als wäre er
    nur ein, zwei Meter entfernt, ernst und finster vor Enttäuschung.
    Ein Ingenieur schafft Ordnung. Meine Hände zittern so, versuchte
    er einzuwenden, doch seine Lippen gehorchten ihm nicht. Statt-
    dessen wiederholten sie immer und immer wieder die Worte
    des großen Mannes: Ein Ingenieur schafft Ordnung, ein Ingenieur
    schafft Ordnung, in der fiebrigen Verwirrung des Dämmer-
    schlafs wiederholte er die Worte im gleichmäßigen Rhythmus
    einer Dampfmaschine, doch sie brachten ihm keinen Frieden.
    Sosehr er sich auch bemühte, vermochte er sich nicht zu erin-
    nern, was er in Ordnung bringen sollte.

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XIV

    E ines Morgens sank plötzlich das Fieber, und William erwachte.
    Im kalten, grauen Licht, das durch das Rechteck des Fensters
    drang, zeichneten sich die Silhouetten der schwarzen, kahlen
    Äste ab. Vom Rahmen über dem Fensterbrett blätterte die Farbe.
    William wandte den Blick in die Ecke, wo gewöhnlich Mr. Bazal-
    gette stand, den Kopf nachdenklich in die Hände gestützt, aber
    diesmal war da nur der geschwungene Waschtisch mit der ver-
    trauten Waschschüssel, bemalt mit Vergissmeinnicht, und dem
    gestickten Ziertuch mit dem verheißungsvollen Spruch Trautes
    Heim Glück allein. Im Kamin knisterte ein schwaches Feuer. Als
    William den Kopf drehte, verspürte er einen leichten Schmerz
    zwischen den Schläfen, aber das Fieber war gewichen, er konnte
    den Kopf oben halten, und seine Stirn fühlte sich fast kühl an.
    Neben das Bett war ein Bugholzstuhl geschoben, über dessen
    Lehne eine Tartandecke hing. Auf den nackten Holzdielen stand
    ein Nähkorb mit einer achtlos hineingeworfenen Garnrolle; da-
    neben der Wasserkrug mit dem Vergissmeinnicht-Muster und
    dem abgeschlagenen Ausguss, bedeckt mit einem weißen Tuch.
    Von der Straße drang das Rattern der Wagenräder auf dem Kopf-
    steinpflaster an sein Ohr und der verzagte Ruf »Milch! Das halbe
    Pint für einen halben Penny!« Ein Pferd wieherte. Gedämpft
    durch die Entfernung, wetteiferte das lang gezogene Tuten der
    Themsefähren mit dem schrillen Pfeifen eines abfahrenden Zu-
    ges. Er war zu Hause.
    Einen vollkommenen Augenblick lang erfüllte ihn die
    Schlichtheit des kahlen Zimmers mit Frieden. Doch dann sicker-

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    ten in dieses wohlige Gefühl die dünnen, säuerlichen Rinnsale
    flüchtiger Träume und halb vergessener Schrecknisse. Sein Ma-
    gen krampfte sich zusammen, die Härchen auf seinen Armen
    sträubten sich.
    »Polly?«, rief er mit leiser Stimme, die Zunge mangels Übung
    träge.
    Kurz darauf hörte er das Tapsen bloßer Füße auf den nackten
    Holzdielen des Treppenabsatzes. William schluckte, dann hievte
    er sich mühsam auf

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