Der Verräter von Westminster
dafür, dass er den Beamten keine Schwierigkeiten machen wollte, setzte er sich wieder auf die Pritsche. Ohnehin fühlte er sich ziemlich mitgenommen.
Zwar wusste er nicht einmal, wer seine Gegner waren, doch der Beamte da, der sich um einen Gefangenen bemühte, von dem er vermutete, dass er einen Doppelmord auf dem Gewissen hatte, gehörte auf keinen Fall dazu.
Es war eine lange und quälende Nacht. Er schlief nur wenig, und sobald er einnickte, suchten ihn Angstträume heim, in denen Finsternis mit Lärm und plötzlich hereinbrechender Gewalttat abwechselten. Am nächsten Morgen erwachte er mit Kopfschmerzen, blauen Flecken und Schmerzen am ganzen Leib. Es kostete ihn große Mühe aufzustehen, als der Beamte erneut mit einer Tasse Tee zu ihm trat.
»Wir bring’n Se nachher zum Untersuchungsrichter«, sagte er, während er Pitt aufmerksam musterte. »Se seh’n entsetzlich aus.«
Pitt versuchte zu lächeln. »So fühle ich mich auch. Ich muss mich dringend waschen und rasieren, und mein Aufzug ist verheerend, weil ich in meinen Kleidern geschlafen habe.«
»So is’ das nun mal im Polizeigewahrsam, Sir. Hier, trink’n Se den Tee. Der hilft Ihn’n auf de Beine.«
»Das hoffe ich.« Er trat einen Schritt von der Tür zurück, damit der Beamte die Tasse hinstellen konnte, ohne einen Angriff von ihm befürchten zu müssen. Aus seiner Zeit im Polizeidienst wusste er, dass dies Verhalten üblich war.
Der Beamte sah ihn fragend an. »Se war’n wohl früher schon mal eingesperrt?«, bemerkte er.
»Nein«, gab Pitt zurück. »Aber ich habe das oft genug von außen mit angesehen. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich selbst Polizeibeamter bin. Sie könnten noch eine andere Nummer anrufen, nachdem Mr Narraway nicht in seinem Büro zu sein scheint. Bitte. Ich muss unbedingt jemanden über meine Situation informieren, zumindest meine Angehörigen.«
»Un’ wer is’ das, Sir?« Der Beamte stellte die Tasse ab, verließ die Zelle rückwärts und schloss sie wieder ab. »Sag’n Se
mir die Nummer, un’ ich ruf’ da an. Darauf hat jeder ’n Anspruch. «
»Lady Vespasia Cumming-Gould«, teilte ihm Pitt mit. »Ich schreibe Ihnen die Nummer auf, wenn Sie mir einen Bleistift geben.«
»Sag’n Se se mir einfach, Sir. Ich schreib se schon auf.«
Widerspruch war zwecklos, und so nannte ihm Pitt die Nummer.
Zehn Minuten später kehrte der Mann mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen und ein wenig bleich im Gesicht zurück.
»Se sagt, dass se Se kennt, Sir. Hat Se ganz genau beschrieb’n un’ gesagt, dass Se einer von ’n best’n Polizeibeamt’n in ganz London sind un’ Mr Narraway genau das is’, was Se gesagt ham, dass dem aber was passiert is’. Se schickt ’n Abgeordnet’n aus’m Unterhaus her, der Se hier raushol’n soll. Außerdem hat se noch gesagt, wir sollt’n Se ja anständig behandeln, sonst müsste se mal ’n ernstes Wörtch’n mi’m Polizeipräsident’ red’n. Ich weiß ja nich’, ob das alles so stimmt, Sir. Se versteh’n hoffentlich, dass ich Se hier drin behalt’n muss, bis der Mann aus London kommt und beweis’n kann, wer er is’. Es könnte ja sons’ jemand sein, un’ immerhin gibt es da zwei Leich’n an der Bahnstrecke.«
»Natürlich«, sagte Pitt matt. Er sagte ihm lieber nicht, dass es sich bei Gower ebenfalls um einen Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes gehandelt hatte und er erst am Vortag hinter dessen Ränkespiel gekommen war. »Selbstverständlich warte ich hier«, sagte er. »Es wäre mir aber lieb, wenn Sie mich erst dann vor den Untersuchungsrichter führten, wenn der Mann hier ist, den Lady Vespasia schickt.«
»Ja, Sir, ich denke, das könn’n wir einricht’n.« Er seufzte. »Is’ wohl auch besser so. Wenn Se noch mal von Southampton komm’n, Sir, wär’s mir lieb, wenn Se über ’ne and’re Strecke fahr’n würd’n.«
Pitt brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Die hier ist mir eigentlich ganz recht. Angesichts der Umstände haben Sie sich ausgesprochen einwandfrei verhalten.«
Der Beamte wusste nicht, was er sagen sollte, schien zu überlegen, brachte aber nichts heraus.
Nahezu zwei Stunden später schlenderte der elegant gekleidete Unterhausabgeordnete Somerset Carlisle in die Polizeiwache. Auf seinem Gesicht mischten sich Neugier, Belustigung und Mitgefühl. Vor vielen Jahren hatte er in London ganz bewusst eine Reihe von Skandalen ausgelöst, um damit auf eine eklatante Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen, gegen die er auf andere Weise
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