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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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seiner Zelle hatte er Gelegenheit, gründlich über alles nachzudenken.
    Es hätte ihn nicht überraschen dürfen, dass Gower ihm gefolgt war. Zwar hatte das angenehme, freundliche Gesicht, das der Mann in Frankreich und eigentlich während der ganzen Zeit ihrer Zusammenarbeit gezeigt hatte, zu dessen Naturell gehört, und trotzdem war es nichts als eine Fassade gewesen, hinter der sich ein gänzlich anders gearteter Mann verborgen hatte.
    Pitt dachte an Gowers Humor, an die Art, wie er der jungen Frau mit dem schwingenden Rock ihres roten Kleides nachgesehen und sich vorgestellt hatte, wie es sein würde, sie kennenzulernen. Auch musste er daran denken, wie gern Gower frisches Brot gegessen und seinen Kaffee schwarz getrunken hatte. Zwar hatte er jedes Mal über dessen bitteren Geschmack das Gesicht verzogen, sich aber trotzdem nachgießen lassen. Er sah ihn vor seinem inneren Auge, wie er lächelnd
das Gesicht in die Sonne hielt, den Segelbooten in der Bucht zusah, ihm die französischen Bezeichnungen für allerlei Meeresfrüchte nannte.
    Menschen setzten sich aus allen möglichen Gründen für diese oder jene Sache ein. Unter Umständen hatte Gower ebenso fest an das von ihm verfolgte Ziel geglaubt wie Pitt an das seine – sie waren einfach von äußerst unterschiedlichem Charakter gewesen. Eigentlich hatte er den Mann gut leiden können und sich in dessen Gesellschaft wohl gefühlt. Wieso nur war ihm die Bedenkenlosigkeit nicht vorher aufgefallen, die es Gower ermöglicht hatte, West zu töten und sich später leichthin gegen ihn, Pitt, zu wenden.
    Und wenn es ihm in Wahrheit gar nicht leichtgefallen war? Vielleicht hatte er die ganze Nacht wach gelegen, sich mit allen möglichen Gedanken gequält, nach einem anderen Weg gesucht und keinen gefunden? Das würde er jetzt nie erfahren. Es war schmerzlich, sich darüber klarzuwerden, dass so vieles anders sein konnte, als man angenommen hatte, und seine eigene Einschätzung des Mannes so deutlich von der Wirklichkeit abgewichen war. Er konnte sich gut vorstellen, was Narraway dazu sagen würde.
    Der Beamte kam zurück und blieb einen Schritt von den Gitterstäben entfernt stehen. Als Pitt sah, dass er keinen Schlüssel in der Hand hielt, sank ihm der Mut. Mit einem Mal fühlte er sich entsetzlich verloren.
    »Tut mir leid, Sir«, sagte der Beamte unbeholfen. »Ich hab die Nummer angeruf ’n. Das war zwar ’ne Polizeidienststelle, aber die ham gesagt, dass es da kein’n Narraway gibt un’ man Ihn’n nich’ helf ’n kann.«
    »Das ist völlig unmöglich!«, sagte Pitt verzweifelt. »Natürlich ist Narraway da. Er ist Leiter des Sicherheitsdienstes! Rufen Sie noch einmal an. Wahrscheinlich hat man Sie falsch verbunden. «

    »Nein, die Nummer war schon richtig, Sir«, gab der Beamte unerschütterlich zurück. »Es war der Sicherheitsdienst, ganz, wie Se gesagt ham. Aber die ham mir gesagt, dass es da kein’n Victor Narraway gibt. Ich hab noch nachgefragt, Sir, un’ die ham ganz höflich gesagt, dass se sicher wär’n. Da gibt’s kein’n Victor Narraway. Un’ jetz’ seh’n Se zu, dass Se sich ’n bissch’n ausruh’n könn’n. Morg’n früh seh’n wir dann weiter. Soll ich Ihn’n ’ne Tasse Tee un’ vielleicht auch ’n belegtes Brot bring’n?«
    Alles schien sich um Pitt herum zu drehen. Der Alptraum wurde immer schlimmer. In seiner Vorstellung zeichneten sich die fürchterlichsten Schreckensbilder ab. Was war mit Narraway geschehen? Wie weit reichte die Verschwörung? Vielleicht hätte er an die Möglichkeit denken müssen, dass die Leute, die ihn zu einem vergeblichen Unternehmen nach Frankreich gelockt hatten, auch Narraway aus dem Weg räumen würden, denn sonst wäre ein solches Manöver nicht sinnvoll gewesen. Pitt stand lediglich im zweiten Glied. Er mochte Narraways rechte Hand sein, war aber auf keinen Fall mehr als das. Eine wirkliche Bedrohung für jene Leute ging ausschließlich von Narraway aus.
    » Woll’n Se jetz’ ’ne Tasse Tee, Sir?«, wiederholte der Polizeibeamte sein Angebot. »Se seh’n ’n bissch’n mitgenomm’n aus. Un’ ’n belegtes Brot?«
    »Ach ja, bitte …«, sagte Pitt müde. Er war dem Mann dankbar für seine Menschlichkeit, doch ließ sie ihm die ganze Situation nur noch grotesker erscheinen. »Vielen Dank.«
    »Seh’n Se zu, dass Se sich ausruh’n, Sir. Quäl’n Se sich nich’ so. Ich besorg Ihn’n ’n belegtes Brot. Wär’s Ihn’n recht mit Schink’n?«
    »Ja, sehr gern, danke.« Zum Zeichen

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