Der Verräter von Westminster
nichts hätte unternehmen können. Pitt war damals mit der Untersuchung des Falles beauftragt gewesen. Nachdem der Mord aufgeklärt worden war, um den es ging, hatte Pitt es nicht für erforderlich gehalten, Carlisle, der ihn auf so merkwürdige Weise ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt hatte, zu belangen. Das hatte dieser zu schätzen gewusst und ihm seither in mehreren Fällen beigestanden.
Da sich Carlisle anhand mitgebrachter Dokumente ausweisen und zweifelsfrei belegen konnte, dass er ein hohes Regierungsamt bekleidete, war Pitt binnen zehn Minuten in Freiheit. Er tat die Entschuldigungen der Polizeibeamten ab und versicherte ihnen, dass sie ihre Pflicht in beispielhafter Weise erfüllt hatten und er an ihnen nicht das Geringste auszusetzen habe.
»Was zum Teufel wird hier eigentlich gespielt?«, fragte Carlisle, während sie im Sonnenschein dem Bahnhof entgegenstrebten. »Vespasia hat mich heute Morgen angerufen und mir gesagt, dass man Sie eines Doppelmordes beschuldigt! Sie war ganz aufgeregt, was gar nicht ihre Art ist. Sie sehen grauenhaft aus, Mann, wenn ich das sagen darf. Brauchen Sie einen Arzt?« Zwar klang seine Stimme belustigt, aber in seinen Augen lag unverhüllte Besorgnis.
»Es war ein Kampf auf Leben und Tod«, sagte Pitt knapp. Es fiel ihm schwer, normal zu gehen. Ihm war noch gar nicht richtig zu Bewusstsein gekommen, welche Verletzungen er davongetragen hatte. »Auf der hinteren Plattform eines Eisenbahnwaggons in einem schnell fahrenden Zug.« Kurz berichtete er von dem Vorfall und dessen Hintergründen.
Carlisle nickte. »Eine äußerst undurchsichtige Angelegenheit. Ich bin nicht über alles informiert, wäre aber an Ihrer Stelle äußerst vorsichtig, Pitt. Vespasia hat mir gesagt, ich soll Sie nicht nach Lisson Grove bringen, sondern zu ihr. Am besten dürfte es sein, wenn Sie sich von Lisson Grove erst einmal fernhalten.«
Ein Schauer überlief Pitt. Die im Sonnenschein daliegende Straße, der Verkehrslärm um ihn herum, kamen ihm unwirklich vor. »Was ist mit Narraway?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe dies und jenes gehört, habe aber nicht die geringste Ahnung, was da gespielt wird. Falls es überhaupt jemand weiß, dann Vespasia. Aber vorher nehme ich Sie erst einmal mit zu mir, damit Sie sich ein bisschen frisch machen können. Sie sehen aus, als hätten Sie die Nacht im Gefängnis verbracht.«
Pitt würdigte diese Bemerkung keiner Antwort.
Zwei Stunden später stieg Pitt vor Lady Vespasias Haus aus der Droschke. Er hatte sich nicht nur gewaschen und rasiert, sondern auch ihm von Carlisle zur Verfügung gestellte frische Wäsche, Socken und ein sauberes Hemd angezogen. Lady Vespasia, die zu einem silbergrauen Kleid eine lange Perlenkette trug, erwartete ihn bereits und geleitete ihn in den kleinen Salon, ihren Lieblingsraum, von dem aus der Blick auf den Garten fiel. Auf dem Tisch stand eine Schale mit frischen Narzissen, deren Duft den ganzen Raum erfüllte. Vor dem Fenster bewegte eine leichte Brise das junge Laub an den Bäumen.
Nach wie vor beeindruckte ihn Lady Vespasias Schönheit. Auch wenn sie wie immer gefasst war, kannte er sie gut genug, um tiefe Besorgnis in ihren Augen zu erkennen. Er war zu müde, um die Unruhe zu unterdrücken, die er dabei empfand.
Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Aha, Somerset hat dir also ein Hemd und eine Krawatte geliehen«, bemerkte sie mit feinem Lächeln.
»Sieht man das so deutlich?«, fragte er.
»Selbstverständlich. Du würdest dir nie im Leben ein Hemd in dieser Farbe oder eine Krawatte mit Bordeauxtönen kaufen. Beides steht dir aber wirklich gut. Setz dich doch bitte. Es ist lästig, wenn ich den Kopf in den Nacken legen muss, um dich anzusehen.«
Er war froh, im Sessel ihr gegenüber Platz nehmen zu können, denn langes Stehen strengte ihn an. Nachdem die Förmlichkeiten vorüber waren, wandte sie sich sogleich den drängenden Fragen zu, die beiden zu schaffen machten.
»Wo hast du nur gesteckt?«, fragte sie, ohne auch nur einen Gedanken an die Möglichkeit zu verschwenden, dass er die Frage nicht beantworten würde, weil es um eine vertrauliche Angelegenheit ging. Immerhin wusste sie mehr über die Macht und Gefahr von Geheimnissen als die meisten Kabinettsminister.
»In Saint Malo«, gab er zur Antwort. Es war ihm ausgesprochen peinlich, die ihm gestellte Falle erst so spät erkannt zu haben, doch er wich ihrem Blick nicht aus und berichtete das Abenteuer in allen Einzelheiten. So erfuhr sie, wem
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