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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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er mit Gower durch die Straßen nachgejagt war, wie Gower kurz zurückgeblieben war und Pitt nach ihrem erneuten Zusammentreffen zu der Ziegelei gelotst hatte, wo sie gesehen hatten, wie sich Wrexham über Wests Leiche beugte, dem man die Kehle durchgeschnitten hatte und dessen Blut die Steine des Ziegeleihofs bedeckte.

    Lady Vespasia zuckte bei dieser drastischen Schilderung zusammen, unterbrach ihn aber nicht.
    Als Nächstes beschrieb er, wie sie Wrexham erst ins East End, dann mit dem Zug bis Southampton und schließlich per Fähre bis nach Saint Malo verfolgt hatten. Er erklärte so ausführlich, warum sie ihn nicht gleich festgenommen hatten, dass er nach einer Weile den Eindruck hatte, es klinge wie eine Ausrede.
    Tröstend sagte sie: »Dem gesunden Menschenverstand würde deine Handlungsweise gerechtfertigt erscheinen, denn damals konntest du es nicht anders wissen. Du darfst dir also von mir aus weitere Einzelheiten sparen. Du hattest Grund, eine sozialistische Verschwörung zu vermuten, und warst überzeugt, dass die wichtiger war als ein Mord in London. Was hast du in Saint Malo herausbekommen?«
    »Herzlich wenig«, gab er zur Antwort. »Wir haben in den ersten Tagen einen oder zwei bekannte sozialistische Agitatoren gesehen … jedenfalls nehme ich das an.«
    »Was meinst du mit ›Ich nehme das an‹?«, fragte sie.
    Er erklärte ihr, dass Gower die Männer identifiziert und er sich damit zufriedengegeben hatte.
    »Ich verstehe. Und wer waren die?«
    Gerade als er sagen wollte, dass ihr die Namen kaum bekannt sein dürften, fiel ihm die Rolle ein, die sie um die Mitte des Jahrhunderts in den in großen Teilen Europas mit Ausnahme Großbritanniens ausgebrochenen Revolutionen gespielt hatte. In jener kurzen Zeit der Hoffnung auf eine neue Freiheit war sie in Italien selbst auf die Barrikaden gestiegen. Es war also durchaus möglich, dass sie nicht alles Interesse an diesen Dingen verloren hatte. »Jacob Meister und Pieter Linsky«, sagte er. »Aber sie sind nicht noch einmal gekommen.«
    Sie runzelte die Brauen. Ihre Anspannung ließ sich an der Haltung ihrer Schultern erkennen und daran, wie sie die Hände im Schoß ineinanderschlang.

    »Weißt du etwa, um wen es sich bei denen handelt?«
    »Selbstverständlich«, sagte sie knapp. »Und auch von vielen anderen. Die Leute sind äußerst gefährlich, Thomas. Auf dem Kontinent erhebt ein neuer Radikalismus sein Haupt, und die nächsten Aufstände werden nicht wie die von 1848 ausgehen. Wir haben es mit einem ganz anderen Menschenschlag zu tun. Es wird mehr Gewalttaten geben, wahrscheinlich sogar sehr viel mehr. Wenn der Zar nicht lernt, dass er sich den Zeiten anpassen muss, wird die Monarchie dort nicht mehr von langer Dauer sein. Die Art, wie die Menschen in Russland unterdrückt werden, ist entsetzlich, und es herrscht eine erschreckende Armut. Ich habe noch einige alte Bekannte dort, die mir gelegentlich schreiben und mir schildern, wie es im Lande aussieht. Der Zar hat, wie auch seine sämtlichen Minister und Berater, jeden Bezug zur Wirklichkeit und zu seinem Volk verloren. So tief ist die Kluft zwischen denen, die einen geradezu obszönen Reichtum zur Schau stellen, und denen, die buchstäblich verhungern, dass sie sie schließlich alle miteinander verschlingen wird. Das Einzige, was wir nicht wissen, ist, wann es so weit sein wird.«
    Diese Vorstellung ließ ihn erschauern, aber er sagte nichts und stellte ihre Voraussage auch nicht in Frage.
    »Bedauerlicherweise kann ich dir auch von hier nichts Gutes berichten – einen Teil weißt du ja schon.«
    »Nur dass Narraway nicht mehr in Lisson Grove ist«, gab er zur Antwort. »Carlisle hat mir aber weder gesagt, warum, noch, was genau geschehen ist.«
    »Ich kenne die Hintergründe«, sagte sie mit einem tiefen Seufzer, und er sah die Trauer in ihren Augen. Sie war bleich und sah müde aus. »Man legt ihm zur Last, einen ansehnlichen Geldbetrag unterschlagen zu haben, der …«
    »Wie bitte?« Der bloße Gedanke war widersinnig. Normalerweise hätte er nicht im Traum daran gedacht, ihr ins Wort
zu fallen – ein so rüpelhaftes Verhalten war für ihn unvorstellbar – , aber was sie gesagt hatte, war so unerhört, dass er sich nicht beherrschen konnte.
    Ein Anflug von Belustigung funkelte in ihren Augen und verschwand gleich wieder. »Selbstverständlich ist mir die Absurdität dieses Vorwurfs bewusst, Thomas. Victor hat durchaus seine Schwächen, aber Übergriffe auf das Eigentum anderer gehören

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