Der Verräter von Westminster
herauszubekommen?
Doch auch das ergab keinen Sinn, denn in dem Fall hätte es sich eher angeboten, Narraway zu töten.
Charlotte erinnerte sich an den Ausdruck, der auf Talullas Gesicht getreten war, als sie Narraway an Cormacs Leiche hatte stehen sehen. Sie war nahezu hysterisch gewesen. Sicher
besaß sie beachtliche schauspielerische Fähigkeiten, wie an der Wildheit ihres Blicks und der sich überschlagenden Stimme zu erkennen gewesen war – sie dürften aber kaum so weit gehen, dass sie gleichsam auf Kommando Schweißperlen auf der Stirn und der Oberlippe hervorrufen konnte. Sie hatte kaum zu Cormacs Leiche hingesehen. Der Grund dafür konnte sein, dass ihr deren Anblick unerträglich war – aber ebenso gut auch ihr Wissen, welches Bild sie erwartete. Auch war sie nicht zu ihm getreten, um festzustellen, ob man ihm möglicherweise noch helfen konnte. Das konnte nur bedeuten, dass sie bereits im Bilde war. Auf ihrem Gesicht hatte weder der Ausdruck von Kummer gelegen, noch war dort der Wunsch zu erkennen gewesen, sich der Realität zu verschließen, sondern ausschließlich glühender Hass.
Während der Droschkenfahrt nahm Charlotte nicht das Geringste von der Schönheit der Stadt Dublin um sich herum wahr. Lediglich als ihr kalter Regen auf Gesicht und Schulter fiel, reagierte sie einen Augenblick lang auf ihre Umwelt und schloss das Fenster.
Welchen Anteil hatte Talulla an der ganzen Geschichte? Auf welche Weise hing das alles mit Mulhare und dem unterschlagenen Geld zusammen? Unmöglich konnte Talulla die Intrige in die Wege geleitet haben – es sei denn, in Lisson Grove gab es jemanden, der die Leidenschaft der Iren schürte und alte Wunden aufriss, um auf diese Weise jemanden zu finden, der ihnen Narraway vom Halse schaffte. Sofern diese Vermutung zutraf und nicht lediglich ein Produkt von Charlottes überreizter Vorstellungskraft war – wer war daran beteiligt? Wen konnte sie fragen? Gab es unter Narraways angeblichen Freunden jemanden, der bereit war, ihm zu helfen? Oder hatte er jeden einzelnen von ihnen irgendwann so sehr verprellt oder hintergangen, dass sie keinen anderen Wunsch kannten, als sich an ihm zu rächen, wenn der Zeitpunkt dafür günstig war?
Er war jetzt unendlich verletzlich. War es denkbar, dass die im Hauptquartier des Sicherheitsdienstes tätigen Männer dies eine Mal ihre kleinlichen Zänkereien und Eifersüchteleien begraben hatten, um sich zu Narraways Untergang miteinander zu verschwören? War ihr Hass stärker als ihr Gefühl für Anstand? Ihr war bewusst, dass Menschen allerlei Rechtfertigungen für ihren Hass fanden und bereit waren, dafür ihre üblichen moralischen Maßstäbe außer Acht zu lassen.
Vielleicht aber fällte sie damit ein oberflächliches Urteil, zu dem sie kein Recht hatte. Was würde sie in der umgekehrten Situation empfinden, wenn beispielsweise die Iren Englands ausländische Zwingherren wären? Würde sie, falls jemand ihre Angehörigen benutzt und verraten hätte, weiterhin an ihren Überzeugungen festhalten, sich dem Anstand und einer vorurteilsfreien Suche nach Gerechtigkeit verpflichtet fühlen? Das war denkbar – aber keineswegs sicher. Auf diese Frage könnte sie höchstens eine so theoretische Antwort geben, dass sie auf keine praktische Situation anwendbar wäre.
So oder so – Narraway hatte keinen Anteil an Cormacs Tod. Während sie sich das sagte, ging ihr auf, dass er ihrer festen Überzeugung nach nur teilweise an Kate O’Neils Untergang schuldig war. Hatten nicht die Angehörigen der Familie O’Neil ihrerseits ihn zu benutzen versucht, indem sie ihn dazu bringen wollten, Verrat an seinem Vaterland zu begehen? Zwar hatten sie allen Grund, sich zu ärgern, weil ihnen das misslungen war, aber gab ihnen das ein Recht, sich dafür an ihm zu rächen?
Sie musste unbedingt jemanden finden, der ihr helfen konnte, denn sofern sie allein auf sich gestellt blieb, konnte sie gleich aufgeben, nach London zurückkehren und Narraway sowie damit letzten Endes auch Pitt seinem Schicksal überlassen. Noch bevor sie in der Molesworth Street ankam und versuchte, Mrs Hogan die Situation zu erklären, was sich nicht
vermeiden lassen würde, beschloss sie, Fiachra McDaid um Hilfe zu bitten.
»Was?«, fragte McDaid ungläubig, als sie ihm im Herrenzimmer seines Hauses das Vorgefallene berichtete.
Sie saßen in gewaltigen Ledersesseln, und Charlotte nahm an, dass es in vornehmen Herrenklubs so aussah wie dort: holzgetäfelte Wände, abgewetzte bequeme
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