Der Verräter von Westminster
war Wut das einfachste Ventil für einen unerträglichen Schmerz. Das hatte Charlotte nur allzu oft erlebt, war sogar selbst vor langer Zeit beim Tod ihrer Schwester Sarah davon betroffen gewesen, hatte die damit verbundene Angst und Enttäuschung kennengelernt. Es entsprach dem Wesen des Menschen, anzunehmen, dass irgendjemand ja für alle Ungerechtigkeiten verantwortlich sein müsse und folglich dafür zu bezahlen hätte.
Wer aber mochte Talulla auf diese Weise benutzt haben? Und warum? Hatte es Cormac lediglich »zufällig getroffen«, wie Fiachra McDaid zu sagen pflegte, in einem Kampf, der einem höheren Ziel diente? War in Wirklichkeit Narraway das eigentliche Opfer, um das es demjenigen ging? Wenn man Narraway für einen Mord hängte, den er nicht begangen hatte, wäre das in Talullas Augen in der Tat eine Art poetische Gerechtigkeit. Da sie überzeugt war, dass er die Schuld am Tod ihrer Mutter trug und ihr Vater nichts damit zu tun hatte, musste sich das für sie als elegante und geradezu vollkommene Lösung darstellen.
Aber wer steckte dahinter? Wer hatte sie dazu angestiftet, ihr die nötigen Informationen geliefert, ihre Leidenschaft angestachelt und damit gleichsam ihre Hand geführt? Und aus welchem Grund? Cormac dürfte es kaum gewesen sein und auch nicht John Tyrone, denn der schien nichts davon zu wissen, und Charlotte glaubte ihm das. Seine Frau Bridget? Möglich. Auf jeden Fall hatte sie mit der Sache zu tun. Die Art, wie sie an jenem ersten Abend spontan auf Charlotte reagiert
hatte, war zu heftig gewesen, als dass dahinter Unwissenheit stehen konnte. Im Rückblick fragte Charlotte sich, ob Bridget wohl mehr gewusst hatte als ihr Mann.
Von wem? War auch Tyrone, zumindest teilweise, ein weiteres beiläufiges Zufallsopfer? Hatte sich jemand seiner bedienen können, weil er verletzlich war, seine Frau mehr liebte als sie ihn und er als Bankier Zugang zu den erforderlichen Geldmitteln hatte?
Auf all diese Fragen gab es eine Antwort, der sie sich endlich stellen musste: Niemand anders konnte dahinterstecken als Fiachra McDaid. Auch wenn er mit der Vergangenheit nicht das Geringste zu tun gehabt haben und in keiner Weise in die Tragödie verwickelt gewesen sein mochte, so hatte er sich die ganze Geschichte doch zunutze gemacht. Für ihn bedeutete das Ziel alles und die Mittel, die ihm dazu dienten, es zu erreichen, nicht das Geringste. Das galt auch für die Opfer, die dabei auf der Strecke blieben, ob schuldig oder nicht.
Doch inwiefern konnte es der Sache Irlands dienen, dass man Narraway aus dem Sicherheitsdienst entfernte? Man würde einen anderen an seine Stelle setzen. War es das? Wollte man einen von den Iren gekauften und bezahlten Verräter einsetzen? Noch während sie diesem Gedanken nachhing, hielt die Droschke vor Mrs Hogans Pension. Sie hatte der Wirtin versprochen, am nächsten oder übernächsten Tag auszuziehen. Neben der Notwendigkeit, außer ihrem eigenen Gepäck auch das Narraways fortschaffen zu lassen, gab es andere Schwierigkeiten zu bedenken. Im Vordergrund stand das Bewusstsein, dass ihr Geld nicht für einen längeren Aufenthalt reichen würde, zumal sie noch ihre Fahrscheine für die Fähre und den Zug kaufen musste.
Wenn sie alles recht bedachte, blieb ihr eigentlich keine andere Wahl, als am nächsten Morgen zur Polizei zu gehen und dort ihre Sicht der Dinge darzulegen. Allerdings hatte sie für
keine ihrer Annahmen Beweise. Das Einzige, was sie unter Umständen würde beweisen können, war, dass sie Cormacs Haus unmittelbar nach Narraway betreten hatte und kein Schuss zu hören gewesen war. Lediglich der Hund hatte angefangen zu bellen.
Man würde sie fragen, warum sie das nicht gleich gesagt hatte. Sollte sie zugeben, dass sie angenommen hatte, man werde ihr nicht glauben? Würde sich ein schuldloser Mensch so verhalten?
Sie fiel in einen unruhigen Schlaf und wurde immer wieder wach, wobei sie jedes Mal daran denken musste, dass das Problem nach wie vor ungelöst war.
In der Haftzelle der nur gut einen Kilometer von Cormac O’Neils Haus entfernten Polizeiwache saß Narraway auf seiner Pritsche. Nach außen hin war er völlig reglos, doch seine Gedanken jagten sich. Er musste nachdenken, planen. Wenn man ihn ins Zentralgefängnis der Stadt verlegte, wäre das für ihn das Ende. Immer vorausgesetzt, er überlebte die Haft dort überhaupt so lange, würden sich bei der Hauptverhandlung Zeugen nur verschwommen erinnern, würde man sie dazu gebracht haben, Dinge
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