Der Verräter von Westminster
anders einzuschätzen, als es der Wirklichkeit entsprach, oder gar dazu, sie zu vergessen. Weit schlimmer aber erschien es ihm, dass die unsichtbaren Mächte, die ihn nach Irland und Pitt nach Frankreich gelockt hatten, ihr Vorhaben, worin auch immer es bestehen mochte, inzwischen ausgeführt haben würden und man das Rad nicht mehr würde zurückdrehen können.
Länger als zwei Stunden saß er da, ohne sich zu rühren. Niemand kam, der das Wort an ihn gerichtet, ihm etwas zu essen oder zu trinken gebracht hätte. Mit der Zeit gewann in seinem Kopf ein verzweifelter Plan Gestalt. Mit dessen Ausführung hätte er gern bis zum Einbruch der Dunkelheit gewartet,
doch durfte er nicht das Risiko eingehen, dass man ihn bis dahin schon ins Zentralgefängnis gebracht hätte. Im Tageslicht wäre die Verwirklichung seines Vorhabens zwar weit gefährlicher, aber möglicherweise war es sogar nötig, dass man ihn sah. Auf jeden Fall, davon war er überzeugt, gab es für ihn nur diese eine Gelegenheit.
Aufmerksam lauschte er auf die leisesten Geräusche jenseits der Zellentür, achtete auf die kleinste Bewegung. Er hatte sich genau überlegt, was er zu tun hatte, wenn es so weit war.
Als ein Beamter den schweren Schlüssel im Schloss drehte und die Tür aufstieß, sah er, dass Narraways schönes weißes Hemd zerrissen an den Gitterstäben des Fensters hing und der Gefangene in einer Stellung am Boden lag, als habe er sich das Genick gebrochen.
»He, Flaherty!«, rief der Beamte. »Komm, schnell! Der blöde Mistkerl hat sich aufgehängt.« Er trat zu Narraway und beugte sich über ihn, um nach seinem Puls zu fühlen. »Heilige Mutter Gottes, ich glaub, der is’ tot!«, sagte er vor sich hin. »Flaherty, wo zum Teufel bleibst du?«
Bevor Flaherty kommen konnte, sprang Narraway auf und traf den Mann so heftig am Kinn, dass dessen Kopf nach hinten ruckte. Narraway versetzte ihm erneut einen Hieb, mit dem er ihn bewusstlos schlagen, aber auf keinen Fall töten wollte. Der Mann sollte höchstens fünfzehn oder zwanzig Minuten lang ohnmächtig sein, denn er brauchte ihn lebend und gehfähig. Er legte ihn dorthin, wo er selbst gelegen hatte, zerrte ihm den Uniformrock vom Leibe und nahm ihm die Schlüssel ab. Ihm blieb gerade noch Zeit, sich hinter die Tür zu stellen, als Flaherty eintrat.
Besorgt hielt er den Atem an für den Fall, dass Flaherty etwas witterte und die Geistesgegenwart besaß, die Tür hinter sich abzuschließen oder, schlimmer, sie sogleich zuzuschlagen und den Schlüssel von außen herumzudrehen. Aber der Anblick
des Kollegen am Boden brachte ihn zu sehr aus der Fassung, als dass er einen klaren Gedanken hätte fassen können. Er eilte auf den Mann zu, wobei er dessen Namen rief. Narraway nutzte diese einzige Gelegenheit, die er hatte. Er schlüpfte aus der Zelle, zog die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel um. Im nächsten Augenblick hörte er Flaherty rufen. Gut so. Man würde den Mann nach wenigen Minuten befreien. Für seinen Plan war es wichtig, dass man ihn verfolgte.
Beim Verlassen der Wache achtete er sorgfältig darauf, dass ihn niemand sah, und blieb zweimal regungslos stehen, bis die Schritte der den Kollegen zu Hilfe eilenden Beamten verhallt waren.
Draußen auf der Straße hingegen rannte er mit voller Absicht. Er wollte auffallen, wollte, dass sich die Leute an ihn erinnerten, damit jemand den Verfolgern sagen konnte, in welche Richtung er sich gewandt hatte, falls sie nicht von selbst darauf kamen. Dazu aber müssten sie die Zusammenhänge kennen.
Es regnete. Schon bald war er durchnässt, und die Haare klebten ihm am Kopf. Die Passanten sahen ihn verblüfft an, wie er ohne Hemd unter der Jacke an ihnen vorüberrannte, aber niemand trat ihm in den Weg. Vermutlich hielten sie ihn für betrunken.
Für den Fall, dass noch Polizeibeamte Cormacs Haus bewachten, musste er sich außer Sichtweite halten. Unter keinen Umständen durfte er sich jetzt gleich fassen lassen. Er verlangsamte den Schritt und ging auf die andere Straßenseite. Als niemand zu sehen war, überquerte er vor Talullas Haus die Straße erneut. Falls sie nicht an die Tür kam, würde er eine Fensterscheibe einschlagen und sich gewaltsam Zutritt verschaffen müssen. Sein Plan beruhte darauf, dass sie einander gegenüberstanden, wenn ihn die Polizei einholte.
Er klopfte.
Nichts rührte sich. Und wenn sie gar nicht zu Hause war, sondern Bekannte aufgesucht hatte? War das denkbar, so kurz, nachdem sie ihren Onkel ermordet
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