Der Verräter von Westminster
ängstigte sie ebenso sehr wie die Vorstellung, dass niemand ihre Geschichte glauben würde. Etwa hundert Schritt von der Wache entfernt hielt der Kutscher urplötzlich an und beugte sich nach unten, um mit jemandem zu sprechen, den Charlotte nicht sehen konnte.
»Wir sind noch nicht da!«, sagte sie verzweifelt. »Bitte fahren Sie noch ein Stück weiter. Ich kann das Gepäck unmöglich so weit tragen. Genau genommen kann ich es überhaupt nicht tragen.«
»Bedaure«, sagte der Kutscher in einem Ton, als empfinde er aufrichtiges Mitgefühl. »Das war einer von der Polizei. Er hat gesagt, dass ein gefährlicher Gefangener ausgebrochen ist und sie einen Aufruhr in der Bevölkerung fürchten. Sie haben die Straße ab hier gesperrt.«
»Ein Gefangener?«
»Ja. Engländer. Schrecklich brisant soll die Sache sein. Er ist gestern noch vor Tagesende einfach verschwunden. Wie sie in seiner Zelle nachgesehen haben, war er weg. Sie lassen keinen mehr zur Wache durch.«
Charlotte sah ihn an, als verstehe sie nicht, was er sagte, während sich ihre Gedanken überschlugen. Geflohen? Gestern? Ein Engländer? Das konnte nur Narraway sein, oder nicht? Vermutlich war ihm noch deutlicher bewusst als ihr, wie viele Menschen ihn hassten, wie leicht es ihnen fallen würde, dafür zu sorgen, dass die Beweise in einer Gerichtsverhandlung nach
ihren Vorstellungen manipuliert wurden. Wem würde man glauben – etwa ihm, einem Engländer, mit seiner Vergangenheit? Oder Talulla Lawless, die obendrein Sean O’Neils und, was vielleicht noch wichtiger war, Kates Tochter war? Wer würde bereit sein, auch nur in Gedanken zu erwägen, sie könne Cormac erschossen haben?
Nach wie vor sah der Kutscher zu Charlotte hin und wartete auf ihre Entscheidung. »Ja dann …« Sie suchte nach Worten. Sie wollte zwar Narraway nicht allein in Irland zurücklassen, schon gar nicht jetzt, da man nach ihm suchte, aber sie sah keine Möglichkeit, ihm zu helfen. Woher hätte sie wissen sollen, wohin er sich wenden würde? War sein Ziel der Norden oder der Süden, das Landesinnere, oder wollte er sich bis zur Westküste durchschlagen? Auch wusste sie nicht, ob er im Lande jemanden kannte, den er um Hilfe bitten konnte, seien es Freunde oder alte Verbündete.
Dann überfiel sie ein neuer Gedanke und ließ sie erstarren. Bestimmt hatte man ihm bei seiner Festnahme alles abgenommen, auch sein Geld. Wenn er mittellos war, wovon würde er leben, seine Kosten bestreiten? Sie musste ihm helfen, obwohl sie selbst kaum noch Geld hatte.
Wenn er sich nur nicht einem der Menschen anvertraute, die er in Dublin kannte! Sie alle würden ihn an die Polizei ausliefern. Ihnen blieb gar keine andere Möglichkeit, denn sie waren einer wie der andere durch Erinnerungen und Bluttaten miteinander verbunden, durch alten Kummer, der zu tief reichte, als dass man ihn hätte vergessen können.
Mit der Frage »Wohin wollen Sie jetzt?« unterbrach der Kutscher ihren Gedankengang.
Nicht nur hatte Charlotte kein Geld, sie würde Narraway als seine angebliche Schwester auch nichts nützen, sondern ihm eher schaden. Sie konnte nichts für ihn tun. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, nach London zurückzukehren
und Hilfe bei Pitt oder zumindest bei Tante Vespasia zu finden.
»Fahren Sie mich bitte nach Kingstown zum Fährhafen«, sagte sie, so gefasst sie konnte. »Ich denke, es dürfte das Beste sein, wenn ich das nächste Schiff nach England nehme.«
»Gern.« Er stieg wieder auf den Bock, wendete und trieb sein Pferd an.
Die nicht besonders lange Fahrt kam Charlotte endlos vor. Der Weg führte sie durch Straßen, in denen ohne weiteres sieben oder acht Kutschen nebeneinander fahren konnten, doch sie wirkten verglichen mit den verstopften Straßen Londons nahezu leer. Sie konnte es nicht abwarten, die Insel zu verlassen, doch zugleich war sie von Bedauern erfüllt. Sie würde gern eines Tages als namenlose Besucherin, frei von alten Belastungen, zurückkehren, um deren Schönheiten zu genießen. Jetzt aber beugte sie sich vor, spähte hinaus und zählte die Minuten bis zum Fährhafen. Nachdem ihr Gepäck abgeladen war, sah sie entmutigt die langen Schlangen von Menschen, die darauf warteten, an Bord des Dampfers zu gehen. Das Gedränge war so groß, dass sie immer wieder angestoßen wurde. Es war gar nicht einfach, das Gepäck nicht aus dem Auge zu verlieren und gleichzeitig das Geld aus dem Ridikül zu holen, um gleich eine Fahrkarte zu kaufen. Zweimal hätte man ihr fast den eigenen
Weitere Kostenlose Bücher