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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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des Hauses in der Keppel Street umgewandt hatte, um sie anzusehen. Sie hatten es zu jener Zeit mit einem schwierigen Fall zu tun gehabt, und Narraway hatte ihn am späten Abend zu Hause aufgesucht, um mit ihm über einen neu aufgetretenen Aspekt zu sprechen. Charlotte, die ein altes Kleid trug, da es keinen Grund gegeben hatte, mit Besuch zu rechnen, hatte den Kessel aufgesetzt, um Tee zu machen. Das Licht der Lampe war auf eine ihrer Wangen und ihr dunkles Haar gefallen und
hatte es aufschimmern lassen. Vor seinem inneren Auge sah Pitt noch, wie sie den Küchenhandschuh genommen hatte, um sich nicht die Finger am Wasserkessel zu verbrennen.
    Als Narraway etwas sagte und sie sich zu ihm umwandte und lachte, hatte ihn der Ausdruck seines Gesichts verraten.
    Ob ihr bewusst war, was Narraway für sie empfand?
    Vor Jahren, ganz zu Anfang ihrer Beziehung, war es Pitt wie eine Ewigkeit vorgekommen, bis sie gemerkt hatte, dass er sie liebte. Seither hatten sie sich alle verändert. Damals war sie ein wenig unbeholfen gewesen, die mittlere von drei Schwestern und die einzige, für die die Mutter so recht keinen passenden Ehemann hatte finden können. Jetzt aber wusste Charlotte doch sicher, dass sie geliebt wurde, etwas anderes war gar nicht möglich. Zwar war denkbar, dass sie nicht wusste, wie sehr Pitt an ihr hing, doch hielt er das für unwahrscheinlich.
    Bestimmt war sie entrüstet über die Ungerechtigkeit, mit der man Narraway behandelt hatte. Ganz davon abgesehen war sie ihm nach wie vor dankbar dafür, dass er Pitt zu einer Zeit, als es ihm schlecht ging, in den Sicherheitsdienst übernommen hatte. Ohne diese Anstellung hätte das Leben der Familie Pitt damals eine ausgesprochen trostlose Wendung nehmen können. Sofern ihr bewusst war, was Narraway für sie empfand, würde sie das in ihrem Verantwortungsgefühl ihm gegenüber womöglich noch bestärken. Zwar wäre es lachhaft anzunehmen, sie schulde ihm deswegen etwas – schließlich hatte sie nicht um seine Gunst gebuhlt –, aber Pitt wusste nur allzu gut, wie einfühlsam sie verletzliche Menschen behandelte. Das ging auf einen Beschützerinstinkt zurück, ähnlich wie ihn ein Muttertier mit Jungen hat. Sie würde erst handeln und dann nachdenken. Gerade wegen dieses Wesenszuges liebte er sie. Wäre sie anders, vernunftbetonter und weniger einfühlsam, würde ihm etwas unendlich Wertvolles fehlen. Trotzdem war dies Charaktermerkmal ein gewisser Schwachpunkt.

    Obwohl der Papierstapel auf dem Tisch vor ihm dringend bearbeitet werden musste, waren seine Gedanken nach wie vor bei Charlotte.
    Wo mochte sie sein? Auf welche Weise ließe sich ihr Aufenthaltsort feststellen, ohne dass er sie dadurch in Gefahr brachte? Wem konnte er bedingungslos vertrauen? Noch vor einer Woche hätte er Gower geschickt und ihm damit unwissentlich und ohne es zu wollen eine Geisel in die Hand gespielt, wie er sich keine bessere hätte wünschen können.
    Sollte er Verbindung mit der Polizei in Dublin aufnehmen?
    Vielleicht war es das Beste, wenn niemand dort wusste, wer sie war.
    Er empfand eine geradezu schmerzliche Hilflosigkeit. Obwohl ihm der gesamte Apparat und sämtliche Mittel des Sicherheitsdienstes zur Verfügung standen, waren ihm die Hände gebunden, da er nicht wusste, wem er trauen durfte.
    Es klopfte. Auf sein »Herein« trat Austwick mit weiteren Papieren ein. Er machte eine bedenkliche Miene.
    Pitt war froh, in die Gegenwart zurückkehren zu müssen. » Was bringen Sie?«, fragte er.
    Austwick setzte sich, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Unwillkürlich kam Pitt der Gedanke, dass er das bei Narraway kaum gewagt haben dürfte. Worauf sich die Überheblichkeit des Mannes wohl gründen mochte?
    » Weitere Berichte aus Manchester«, gab Austwick zur Antwort. »Allmählich erweckt die Sache den Anschein, als ob Latimer in Bezug auf die Fabrik in Hyde Recht hat. Die Leute stellen Schusswaffen her, streiten es aber ab. Außerdem ist da die verkorkste Geschichte in Glasgow. Wir müssen die Sache genauer unter die Lupe nehmen, bevor da alles ganz aus dem Ruder läuft.«
    »Im letzten Bericht hieß es, dass es da lediglich um junge Leute ging, die demonstrierten«, erinnerte ihn Pitt. »Narraway
hatte dazu angemerkt, dass man die Sache am besten auf sich beruhen lassen sollte.«
    Austwick verzog angewidert das Gesicht. »Ich nehme an, dass er sich da schon nicht mehr um die Interessen des Landes gekümmert hat. Leider wissen wir nicht, wann seine … Nachlässigkeit begann.

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