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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Koffer entwendet, während sie versuchte, den Narraways von der Stelle zu rücken.
    »Darf ich behilflich sein?«, sagte eine Stimme dicht neben ihr.
    Gerade wollte sie ablehnen, als sie eine Hand auf der ihren spürte, die nach Narraways Koffer griff. Sie hätte am liebsten vor Verzweiflung geweint, doch sie hob wütend ihren Fuß und trat dem Mann mit dem Absatz auf den Spann.
    Er keuchte vor Schmerz auf, ließ aber den Koffer nicht los.
    Sie hob den Fuß erneut, um noch fester zuzutreten.

    »Charlotte, lass das verdammte Ding doch endlich los«, stieß Narraway zwischen den Zähnen hervor.
    Darauf fiel ihr der eigene Koffer aus der Hand. Sie war so aufgebracht, dass sie ihn hätte ohrfeigen können, und zugleich so erleichtert, dass sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten und über die Wangen liefen.
    »Ich nehme an, dass du kein Geld hast«, sagte sie mit erstickter Stimme.
    »Nicht besonders viel«, gab er ihr Recht. »Ich habe mir von O’Casey etwas geborgt, so dass es für die Fähre nach Holyhead reicht. Aber da du mein Gepäck und damit mein Geld mitgebracht hast, schaffen wir die Strecke bis London auch noch. Bleib nicht stehen. Wir müssen Fahrkarten kaufen, und ich möchte unbedingt diese Fähre erreichen. Vielleicht bleibt mir keine Möglichkeit mehr, auf die nächste zu warten. Ich nehme an, dass man mich schon bald hier suchen wird. Ich muss unbedingt nach London, denn ich fürchte, dass da demnächst etwas Entsetzliches geschieht.«
    »Es sind schon mehrere entsetzliche Dinge geschehen«, hielt sie dagegen.
    »Sicher. Aber wir müssen verhindern, was in unseren Kräften steht.«
    »Ich habe herausbekommen, wie die Sache mit dem Geld für Mulhare abgelaufen ist, und bin ziemlich sicher, dass ich weiß, wer dahintersteckt.«
    »Tatsächlich?« In seiner Stimme lag unüberhörbar die Begierde, mehr zu erfahren.
    »Ich sage es dir, wenn wir an Bord sind. Hast du den Hund gehört?«
    »Was für einen Hund?«
    »Cormacs Hund.«
    »Natürlich. Das arme Vieh hat sich gegen die Tür geworfen, kaum dass ich im Haus war.«

    »Und hast du auch den Schuss gehört?«
    »Nein. Du etwa?«, fragte er verblüfft.
    »Nein«, antwortete sie mit einem Lächeln.
    »Ich verstehe.« Sie standen jetzt vor dem Fahrkartenschalter. Auch er lächelte, aber diesmal galt es dem Mann hinter dem Schalter. »Bitte zweimal Holyhead.«

KAPITEL 10
    Pitt war sprachlos, als er den wahren Umfang und die ganze Bedeutung seiner neuen Aufgabe erfasste. Es gab weit mehr zu bedenken, als die vergleichsweise unerhebliche Frage, ob die Verschwörung der Sozialisten auf dem europäischen Kontinent ernsthafte Ausmaße annehmen würde oder es sich dabei um nichts weiter als einen erneuten Ausbruch der von Zeit zu Zeit auftretenden Gewaltäußerungen handelte, zu denen es im Lauf der letzten Jahre hier und da gekommen war. Immer vorausgesetzt, dass ein bestimmtes Vorhaben geplant war, dürfte es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht auf England abzielen.
    Als mit Frankreich verbündete Macht hatte England die Pflicht, alle wichtigen Informationen an die Behörden jenes Landes weiterzuleiten. Doch was hätte er sagen können, was über bloße Spekulationen hinausging? West war umgebracht worden, bevor er ihnen hatte mitteilen können, was er wusste. Im Rückblick lag der Verdacht nahe, dass Gower ein Verräter war. Doch war das alles, oder hatte noch mehr dahintergesteckt? Hatte West Kenntnis davon gehabt, auf welchen der Mitarbeiter außer Gower man sich in Lisson Grove nicht verlassen konnte? Und auf welcher Ebene spielte sich der Verrat ab? Ging es dabei um eine sozialistische Verschwörung? Hatte man die Betreffenden mit Geld oder Macht geködert? Oder
steckte Erpressung hinter der Sache, und falls ja, worauf gründete sie sich? Ging es darum, dass man jemanden als Schuldigen hingestellt hatte wie Narraway, und hatte der Betreffende dem Druck nachgegeben, um seine Haut zu retten?
    War womöglich auch Narraway bedroht worden, und hatte er sich dagegen zur Wehr gesetzt? Oder hatten man ihn einfach ohne Vorankündigung kaltgestellt, im Bewusstsein dessen, dass ein solcher Versuch sinnlos sein würde?
    Während er in Narraways früherem Büro saß, gingen ihm all diese Gedanken durch den Kopf. Würde er der Nächste sein? Er hatte keine Vorstellung davon, welche Bedrohung er nach Ansicht jener unbekannten Kräfte für sie bedeuten konnte. Wohl auf keinen Fall eine so große wie Narraway. Er sah sich in dem Raum um, der ihm von der

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