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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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der von Narraway vorgelegten Berichte durchfuhr ihn die Vertrautheit wie ein Stich, und er spürte erneut, wie einsam er sich auf dessen Posten und ohne ihn fühlte. Narraways Schrift war kleiner und fließender als die Austwicks, wie beiläufig hingeworfen, und vor allem machte er weniger Worte als dieser. An keiner Stelle ließ sich das geringste Zögern erkennen. Er hatte sich genau überlegt, was er schreiben wollte, bevor er die Feder aufs Papier setzte, und nicht einmal ansatzweise den Versuch unternommen zu verbergen, dass er Croxdale nur das Allernötigste mitteilte. Beruhte das auf einer Absprache zwischen den beiden, besaß Croxdale die Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen? Oder hatte Narraway damit
einfach klargemacht, dass er ausschließlich einen Teil dessen zu berichten gedachte, was er wusste?
    Pitt musterte Croxdales Gesicht aufmerksam, fand aber dort keine Antwort auf diese Fragen.
    Sie gingen alle Berichte sorgfältig durch. Ein Diener brachte ein Tablett mit Toast und Leberpastete sowie Käse und einen Früchtekuchen zusammen mit Brandy, den Pitt aber ebenso höflich wie entschieden ablehnte.
    Inzwischen war es draußen vollständig dunkel geworden. Ein leichter Wind hatte sich erhoben und trieb Regentropfen gegen die Scheiben.
    Croxdale legte das letzte Blatt zurück. »Offensichtlich war Narraway überzeugt, dass hinter der Sache in Paris zwar etwas steckte, hielt es aber nicht für bedeutend genug, um gleich dagegen vorzugehen. Austwick hingegen sieht darin nichts weiter als Lärm und Großtuerei. Im Unterschied zu Narraway ist er überzeugt, dass uns das hier in England nicht betrifft. Was meinen Sie, Pitt?«
    Diese Frage, von der ihm klar gewesen war, dass sie unausweichlich kommen würde, hatte Pitt gefürchtet. Hier gab es keine Möglichkeit, Ausflüchte zu machen, ganz gleich, wie leicht sich diese rechtfertigen ließen. So oder so würde man ihn danach beurteilen, wie zutreffend seine Einschätzung der Lage war. Er hatte ganze Nächte hindurch wachgelegen und alles erwogen, was er wusste, in der Hoffnung, von Croxdale etwas zu erfahren, was die Waage in die eine oder andere Richtung ausschlagen ließ.
    Mit kaum wahrnehmbarem Zögern erklärte er: »Ich denke, dass Narraway unmittelbar davorstand, etwas ganz Entscheidendes in Erfahrung zu bringen, und man ihn aus dem Weg geräumt hat, bevor er eine Möglichkeit dazu hatte.«
    Croxdale wartete lange mit seiner Antwort. »Ist Ihnen klar, was Sie damit sagen? Für den Fall, dass Sie damit Recht haben,
ist Austwick entweder unsagbar unfähig oder, und das wäre weit schlimmer, in diese Vorgänge verwickelt.«
    »Ja, Sir, ich fürchte, so verhält es sich in der Tat«, stimmte Pitt zu. »Gower hat jemandem Berichte geliefert, also muss zumindest ein Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes ein Verräter sein.«
    »Ich arbeite seit Jahren mit Charles Austwick zusammen«, sagte Croxdale leise. »Aber vielleicht kennt man einen Menschen nicht immer so gut, wie man annimmt.« Er seufzte. »Ich habe nach Stoker geschickt. Soweit ich weiß, müsste er heute aus Irland zurückgekehrt sein. Vielleicht kann er etwas Licht auf die Angelegenheit werfen. Vertrauen Sie ihm?«
    »Ja. Aber ich habe auch Gower vertraut, und so bin ich nicht sicher, ob das viel wert ist«, sagte Pitt betrübt. »Trauen Sie ihm?«
    Croxdale lächelte ihm trübselig zu. »Nein. Ich traue niemandem. Mir ist nur allzu bewusst, dass wir uns das auch gar nicht leisten können. Nicht nach dem, was wir mit Narraway und jetzt auch mit Gower erlebt haben. Auf jeden Fall wollen wir uns aber anhören, was Stoker zu sagen hat. Wollen Sie ganz bestimmt keinen Brandy?«
    »Nein. Wirklich nicht. Vielen Dank, Sir.«
    Es klopfte, und auf Croxdales Aufforderung trat Stoker ein. Er wirkte müde. Tiefe Schatten lagen um seine Augen, und sein Gesicht trug die unübersehbaren Spuren von Erschöpfung. Dennoch stand er stramm, bis ihn Croxdale aufforderte, Platz zu nehmen. Stoker begrüßte auch Pitt, aber lediglich mit einem leichten Nicken, wie es die Höflichkeit erforderte.
    »Nach Mr Pitts Überzeugung lässt sich der gegen Narraway erhobene Vorwurf der Unterschlagung nicht halten«, eröffnete Croxdale das Gespräch. »Er vermutet, dass man ihn mit Hilfe gefälschter Beweise beschuldigt hat, um sich seiner zu entledigen, weil er im Begriff stand, wichtige Informationen über eine bedeutende sozialistische Verschwörung zu erlangen, die auch unser Land bedroht.« Ohne im Geringsten auf
Pitt zu

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