Der Verräter von Westminster
widerfährt leider jedem von uns von Zeit zu Zeit.«
»Raus mit der Sprache!«, stieß Croxdale zwischen den Zähnen hervor. »Wenn es nicht Narraway ist, über den ich mir ein Urteil noch vorbehalte, wer dann?«
»Gower, Sir.«
»Gower?« Croxdale riss förmlich die Augen auf. »Haben Sie ›Gower‹ gesagt?«
»Ja, Sir.« Pitt spürte, wie Zorn in ihm emporstieg. Wie konnte Croxdale Narraway so leichthin für einen Verräter halten und so ungläubig aufnehmen, was Pitt ihm über Gower mitteilte? Was hatte Austwick ihm gesagt? Wie weit reichte dieses Geflecht von Verrat, und wie raffiniert war es angelegt? War Pitt in einer Situation vorgeprescht, in der ein klügerer und erfahrenerer Mann erst einmal vorsichtig das Gelände erkundet hätte? Aber dafür war keine Zeit. Narraway war von seinem Amt suspendiert und in Irland, und der Himmel
mochte wissen, wo sich Charlotte dort gerade aufhielt, ob sie sich in Sicherheit befand und wie es um sie stand.
Nein, er konnte es sich weiß Gott nicht erlauben, bei der Suche nach Feinden vorsichtig das Gelände zu erkunden.
Croxdale sah ihn finster an. Sollte er ihm nur über den Mord an West berichten oder die ganze Geschichte, die ihn selbst wie einen Dummkopf dastehen ließ? Aber er war ja in der Tat ein Dummkopf gewesen. Er hatte Gower vertraut, ihn sogar recht gut leiden können. Die Erinnerung an die damalige Situation schmerzte nach wie vor. Er glaubte in diesem Augenblick die Seeluft von Saint Malo zu riechen, die Wärme der Sonne auf seinem Gesicht zu spüren, Gowers Stimme und sein Lachen zu hören.
»Ein bestimmter Vorfall in Frankreich hat mir klargemacht, dass es nur den Anschein hatte, als hätten Gower und ich gemeinsam die Stelle erreicht, an der wir Wrexham über Wests Leiche gebeugt vorgefunden haben«, sagte er. »In Wahrheit war Gower wenige Augenblicke zuvor dort gewesen und hatte West selbst umgebracht …«
»Das ist doch grotesk!«, explodierte Croxdale und fuhr von seinem Sessel auf. »Sie können nicht erwarten, dass ich Ihnen das abnehme! Wieso haben Sie nicht …« Er setzte sich wieder und versuchte mit Mühe, seine Fassung wiederzugewinnen. »Tut mir leid. Das ist für mich ein ziemlicher Schock. Ich … ich kenne Gowers Angehörige. Sind Sie Ihrer Sache sicher? Das kommt mir alles ein wenig … fadenscheinig vor.«
»Ja, Sir. Zu meinem Bedauern muss ich sagen, dass ich meiner Sache sicher bin.« Pitt konnte sich vorstellen, dass Croxdale das hart traf. »Ich habe ihn unter einem Vorwand in Frankreich gelassen und bin allein zurückgekehrt …«
»Sie haben ihn dagelassen?« Wieder war Croxdale verblüfft.
»Es gab für mich keine Möglichkeit, ihn festzunehmen«, gab Pitt zu bedenken. »Ich war unbewaffnet, und er ist jung und sehr kräftig. Auf keinen Fall wollte ich, dass die französischen Behörden erfuhren, wer wir waren und dass wir dort ohne ihr Wissen und ihre Genehmigung französische Staatsbürger überwachten …«
»Natürlich, das verstehe ich. Sprechen Sie weiter.« Croxdale war ganz offensichtlich tief erschüttert. In einer anders gelagerten Situation hätte Pitt wohl Mitgefühl für ihn aufgebracht.
»Ich habe ihn aufgefordert, dazubleiben und Wrexham sowie Frobisher im Auge zu behalten …«
» Wer ist Frobisher?«, wollte Croxdale wissen.
Pitt teilte ihm mit, was er über den Mann wusste, wie auch über die anderen, die sie in dessen Haus hatten ein und aus gehen sehen.
Croxdale nickte. »Dann war also durchaus etwas an dem Verdacht, dass sich dort Sozialisten treffen und eventuell etwas aushecken?«
»Möglicherweise. Bisher haben wir aber keine Bestätigung dafür.«
»Und Gower ist dort geblieben?«
»Das hatte ich angenommen. Aber im Zug von Southampton nach London bin ich zweimal angegriffen und dabei fast getötet worden.«
»Großer Gott, von wem denn?«, fragte Croxdale mit allen Anzeichen des Entsetzens.
» Von Gower, Sir. Beim ersten Mal ist ein mutiger Mann dazwischengetreten, den ich nicht kannte, und hat mit seinem Leben dafür bezahlt, dass er mich retten wollte. Dann hat mich Gower erneut angegriffen, diesmal aber war ich darauf gefasst, und er hat die Partie verloren.«
Croxdale fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Und wie ist es weitergegangen?«
»Er ist auf den Bahndamm gestürzt«, gab Pitt zur Antwort. Bei dieser Erinnerung bildete sich ein Kloß in seiner Kehle, und der Schweiß brach ihm erneut aus. Er beschloss, nichts von seiner Festnahme zu sagen, um nicht erklären zu
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