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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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vergaß Charlotte weder die aufgewühlten Gefühle noch den Hass, derer sie Zeugin geworden war.
    Während McDaid sie in seiner Kutsche zurückbrachte, gab sie trotz seiner vorsichtigen Nachfragen nichts preis und sagte lediglich, wie sehr sie die Gastfreundschaft des Ehepaars Tyrone genossen hatte.
    »Und kannte jemand Ihre angeheiratete Kusine?«, erkundigte er sich. »In Bezug auf solche Dinge ist Dublin eine Kleinstadt, fast wie ein Dorf.«
    »Ich glaube nicht«, gab sie in munterem Ton zurück. »Vielleicht finde ich ja später noch einen Hinweis auf sie. Immerhin ist O’Neil kein seltener Name. Genau genommen ist es auch nicht besonders wichtig.«
    »Was diesen Punkt angeht, wage ich zu behaupten, dass unser Freund Victor das bezweifeln würde«, sagte er ganz offen. »Ich hatte den Eindruck, dass ihm das durchaus wichtig war. Meinen Sie, dass ich mich da irren könnte?«
    Zum ersten Mal an jenem Abend sagte sie die volle Wahrheit. »Ich glaube, Sie kennen ihn weit besser als ich, Mr McDaid. Wir sind uns lediglich in bestimmten Situationen begegnet, und damit bekommt man kein vollständiges Bild von einem Menschen, finden Sie nicht auch?«

    Da es in der Kutsche dunkel war, konnte sie seinem Gesicht nicht ansehen, was er darüber dachte.
    »Trotzdem habe ich den unabweisbaren Eindruck, dass er Sie gut leiden kann, Mrs Pitt«, gab er zurück. »Was meinen Sie, irre ich mich damit ebenfalls?«
    »Ich halte mich mit dem, was ich meine, gern zurück, Mr McDaid … oder besser gesagt, ich äußere mich nicht gern darüber«, gab sie zurück. Während sie das sagte, jagten sich ihre Gedanken. Sie versuchte sich zu erinnern, was Phelim O’Conor über Narraway gesagt hatte, und fragte sich, wie gut sie ihn wirklich kannte. Immer mehr nahm ihre Überzeugung zu, dass sich Talulla mit ihrer Darstellung von Kate O’Neils Verrat auf Narraway bezogen hatte. Diesen doppelten Verrat an ihrem Land und ihrem Gatten hatte Kate aus Liebe zu einem Mann begangen, der sie benutzt und dann zugelassen hatte, dass sie dafür ermordet wurde.
    Bestimmt war das noch nicht die ganze Geschichte; es musste mehr dahinterstecken. Aber machte das die Tragödie und das Widerwärtige besser? Narraway hatte gesagt, Cormac O’Neil habe sich rächen wollen. Die einzige Frage, die in diesem Zusammenhang von Interesse war, lautete, warum er damit zwanzig Jahre gewartet hatte.
    Pitt hatte stets volles Vertrauen zu Narraway gehabt, das wusste sie ohne den geringsten Zweifel. Sie wusste aber auch, dass er den meisten Menschen positiv gegenüberstand, auch wenn ihm klar war, dass sie ein komplexes Wesen hatten, zu Feigheit, Habgier und Gewalttat fähig waren. Ob er je etwas von der Düsternis in Narraway erkannt hatte, etwas von dem Menschen, der sich hinter dem Kämpfer gegen die Feinde des Landes versteckte? Die beiden waren denkbar verschieden. Wo der eine auf seinen Instinkt vertraute, verließ sich der andere ausschließlich auf seinen scharfen Verstand. Pitt konnte sich in andere Menschen hineindenken,
brachte Verständnis für Schwäche und Angst auf, und da er materielle Not am eigenen Leibe erfahren hatte, wusste er außerdem, wie sehr sich so etwas auf einen Menschen auswirken konnte.
    Aber er wusste auch, was Dankbarkeit war. Narraway hatte ihm zu einer Zeit, da er dringend darauf angewiesen war, ein Ziel im Leben, Würde und die Möglichkeit gegeben, seine Familie zu ernähren. Das würde er ihm nie vergessen.
    War unter Umständen auch er ein wenig zu vertrauensselig?
    Mit einem Lächeln erinnerte sie sich an seine Enttäuschung über die Niedertracht des Prinzen von Wales. Sie hatte gespürt, wie sehr er sich da für einen Mann geschämt hatte, von dem er mehr erwartet hätte. Er hatte mehr an das von dessen hoher Berufung unablösbare Ehrgefühl geglaubt als der Prinz selbst. Dafür liebte sie Pitt aufrichtig, denn sie verstand ihn ganz und gar.
    Nie und nimmer hätte sich Narraway auf diese Weise täuschen lassen; er hätte von dem Prinzen mehr oder weniger genau das Verhalten erwartet, das dieser schließlich auch an den Tag gelegt hatte, und persönlich verletzt hätte er sich deshalb auf keinen Fall gefühlt.
    Ob er sich überhaupt je verletzt gefühlt hatte?
    War es denkbar, dass er Kate O’Neil geliebt und sie dennoch für seine Zwecke benutzt hatte? Das entsprach nicht Charlottes Verständnis von Liebe.
    Aber möglicherweise hatte er stets seine Pflicht an die erste Stelle gesetzt. Unter Umständen empfand er gerade jetzt zum

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