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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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den Köpfen der meisten Briten zum Bestandteil der Geschichte des eigenen Landes geworden. Großbritannien beherrschte ein Viertel der ganzen Welt, und die Engländer neigten dazu, Irland ihrem eigenen kleinen Teil davon zuzuschlagen. Das fiel ihnen umso leichter, als die Iren »selbstverständlich« nicht nur der Krone und der Londoner Regierung unterstanden, sondern auch dieselbe Sprache benutzten wie die Engländer – die Existenz des Gälischen hatten die Briten der Einfachheit halber gar nicht erst zur Kenntnis genommen.
    Eine große Zahl der bedeutendsten Söhne Irlands hatte sich auf der Weltbühne einen Namen gemacht und war dabei von Engländern nicht zu unterscheiden. Zwar war allgemein bekannt, dass Oscar Wilde Ire war, doch seine Theaterstücke waren durch und durch englisch. Wahrscheinlich wussten die Leute auch, dass Jonathan Swift irischer Abkunft war – aber wie war es mit Bram Stoker, dem Schöpfer des bösen Grafen Dracula, und dem bedeutenden Herzog von Wellington, dem Sieger von Waterloo und späteren Premierminister Englands? Dass all diese Männer die irische Heimat in jungen Jahren verlassen hatten, änderte nicht das Geringste an ihrer Abstammung.

    Zwar hatte Charlotte keine irische Vorfahren, doch nachdem sie behauptet hatte, eine irische Großmutter zu haben, war es vielleicht angebracht, die ganze Sache sensibler zu betrachten und für die Gefühle der Iren etwas mehr Verständnis aufzubringen.
    Gegen Abend zog sie erneut ihr einziges schwarzes Kleid an, diesmal mit anderem Schmuck und anderen Handschuhen. Ihre Frisur zierte ein Schmuckstück, das ihr Emily vor Jahren geschenkt hatte. Dann fragte sie sich besorgt, ob sie für das Theater vielleicht übertrieben gut gekleidet war. Sie überlegte sich, ob andere Frauen weniger Aufwand treiben würden. Immerhin war es denkbar, dass die Iren als gebildete und kultivierte Menschen in einem Theaterabend weniger ein gesellschaftliches Ereignis sahen, als vielmehr das intellektuelle Vergnügen und die innere Bewegung in den Vordergrund stellten.
    Sie nahm den Haarschmuck ab und musste dann ihre Frisur neu ordnen. Das kostete Zeit, und so war sie ziemlich aufgeregt, als Narraway an ihre Tür klopfte, um ihr mitzuteilen, McDaid sei da, um sie abzuholen.
    »Danke«, sagte sie und legte rasch den Kamm auf die Frisierkommode, wobei ihr mehrere lose Haarnadeln zu Boden fielen, ohne dass sie weiter darauf achtete.
    Er sah sie besorgt an. »Alles in Ordnung?«
    »Ja. Ich war mir einfach nicht ganz sicher, was ich anziehen sollte«, tat sie seine Sorge mit einer Handbewegung ab.
    Er musterte sie gründlich. Seine Augen wanderten von ihren Schuhen, deren Spitzen unter dem Saum ihres Kleides zu sehen waren, bis hinauf zu ihrer Stirn. Sie spürte, wie ihre Wangen brannten, als sie in seinen Augen die unverhohlene Bewunderung erkannte.
    »Du hast es genau richtig gemacht«, gab er schließlich sein Urteil ab. »Brillantschmuck wäre hier gänzlich unangebracht. Die Iren nehmen ihr Theater sehr ernst.«

    Sie holte Luft, um zu erwidern, dass sie derlei nicht besitze, doch dann ging ihr auf, dass er sich über sie lustig machte. Sie fragte sich, ob er einer Frau, die er liebte, Diamanten schenken würde. Wahrscheinlich nicht. Falls er zu dieser Art Liebe fähig war, würde er wohl eher etwas Persönlicheres und Einfallsreicheres schenken: ein Häuschen am Meer, wie klein auch immer, einen geschnitzten Vogel, ein Musikstück.
    »Da bin ich aber froh«, sagte sie und sah ihm in die Augen. »Mir erschien das ebenfalls als zu ordinär.« Sie nahm den Arm, den er ihr anbot, und legte die Finger so leicht auf den Stoff seines Jacketts, dass er kaum etwas gespürt haben dürfte.
    McDaid war ebenso elegant gekleidet wie am Vorabend, doch weniger formell. Er schien sich zu freuen, sie wiederzusehen, obwohl ihr Abschied noch nicht lange zurücklag, und erklärte sich bereit, ihr das irische Theater zu erläutern, damit sie so viel davon verstand, wie das einer Engländerin möglich war. Bei diesen Worten lächelte er ihr zu, als handele es sich um eine geheime Botschaft, von der ihm klar war, dass sie sie verstand.
    Sie war schon ziemlich lange nicht im Theater gewesen, da Pitt nicht viel dafür übrig hatte, und ohne ihn mochte sie nicht gehen. Gelegentlich allerdings begleitete sie Emily und Jack und genoss einen solchen Abend in vollen Zügen. Am angenehmsten aber waren ihr Theaterbesuche mit Tante Vespasia. Da diese jedoch gegenwärtig tief bekümmert über die

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