Der Verräter von Westminster
Hetzkampagne gegen Oscar Wilde sowie über die Art war, wie man die Affäre zwischen ihm und Lord Queensberry in der Öffentlichkeit breittrat, hatte sie in letzter Zeit keine rechte Lust gehabt, ins Theater zu gehen.
Hier in Dublin war nun so manches anders. Da das Theater deutlich kleiner war als die großen Londoner Theater, herrschte dort eine nahezu familiäre Atmosphäre. Offensichtlich
ging es weniger darum, gesehen zu werden, als darum, an einem Abenteuer des Geistes teilzunehmen.
McDaid stellte sie mehreren seiner Bekannten vor, die ihn begrüßten. Sie schienen sich sowohl vom Alter wie auch – so weit sich das dem äußeren Erscheinungsbild entnehmen ließ – von ihrer gesellschaftlichen Stellung her sehr zu unterscheiden. Man hätte glauben können, er habe sie aus so vielen Berufen wie möglich ausgewählt.
»Mrs Pitt«, sagte er munter. »Sie ist aus London zu uns gekommen, um zu sehen, wie wir leben, hauptsächlich, weil unsere schöne Stadt sie interessiert, zum Teil aber auch, weil sie versuchen will, Spuren ihrer irischen Vorfahren zu finden. Wer könnte sie dafür tadeln? Welcher Mensch mit wachem Geist und heißem Herzen hätte nicht gern ein wenig irisches Blut in den Adern?«
Sie reagierte freundlich auf das Willkommen, das man ihr bot, und fand die Unterhaltung angenehm. Sie hatte fast vergessen, wie belebend es sein konnte, Menschen mit frischen Gedanken kennenzulernen. Gleichzeitig dachte sie gründlich über das nach, was Narraway über McDaid gesagt hatte. Aus dessen Antworten auf die Fragen einer oder zweier etwas neugieriger Damen schloss sie, dass er weit mehr wusste, als Narraway hatte durchblicken lassen.
Sie betrachtete aufmerksam das Gesicht ihres Begleiters, sah darauf aber nichts als gute Laune, Interesse und Freude. Dennoch war sie überzeugt, dass ihm Dinge bekannt waren, die er auf keinen Fall preiszugeben bereit war.
Obwohl sie recht früh gekommen waren, schienen die meisten Besucher schon da zu sein, als sie ihre Plätze einnahmen. Während McDaid noch mit Bekannten plauderte, hatte sie Gelegenheit, sich umzusehen und einige Gesichter zu mustern. Die Unterschiede zwischen den Besuchern hier und denen der Londoner Theater waren nicht besonders groß. Man sah
weniger blonde Köpfe, weniger bäurische angelsächsische Gesichtszüge, und in der Atmosphäre lag eine Anspannung, eine unter der Oberfläche knisternde Energie.
Außerdem hörte sie natürlich die ihr bereits vom Vortag vertraute andersartige melodiöse Sprechweise. Von Zeit zu Zeit bedienten sich Menschen einer ihr völlig unverständlichen Sprache, in der weder der geringste Hinweis auf lateinische oder französische Wörter noch auf solche aus germanischen Sprachen lag, aus denen sich so viele englische Wörter herleiteten. Sie nahm an, dass es sich um Gälisch handelte, die eigentliche Muttersprache der Iren. Lediglich anhand der Gesten, des Gelächters und der Gesichtsausdrücke konnte sie Rückschlüsse auf das Gesagte ziehen.
Ein Mann fiel ihr wegen seiner mit Grau durchsetzten schwarzen Tolle besonders auf. Er hatte einen schmalen Kopf, und erst als er sich zu ihr umwandte, sah sie, wie dunkel seine Augen waren. Seine Nase war stark gekrümmt, so dass das Gesicht schief wirkte. Auf seinen Zügen glaubte sie den Ausdruck großer Verwundbarkeit zu erkennen. Zu ihrer Erleichterung wandte er sich bald wieder ab, als habe er sie nicht gesehen. Sie hatte ihn unverhohlen angestarrt, und das war ungehörig, ganz gleich, wie interessant man einen Menschen finden mochte.
»Sie haben ihn gesehen«, bemerkte McDaid. Es war kaum lauter als ein Flüstern.
Verblüfft fragte sie: »Wen?«
»Cormac O’Neil.«
Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Hatte sie sich so auffällig verhalten? » War das … ich meine … der Mann mit dem …« Sie wusste nicht, wie sie ihren Satz beenden sollte.
»… mit dem gequälten Gesicht«, sagte er an ihrer statt.
»Ich wollte nicht …« Sie sah in seinen Augen, dass Abstreiten zwecklos gewesen wäre. Entweder hatte Narraway es ihm
gesagt, oder er hatte es sich selbst zusammengereimt. Sie fragte sich, wie viele andere das noch wussten, genauer gesagt, ob alle, die in die Sache einbezogen waren, mehr wussten als sie und sie daher niemanden mit ihren vorgeschobenen Gründen täuschen konnte. War das Narraway bekannt? Oder war er in dieser Hinsicht ebenso arglos wie sie?
»Kennen Sie ihn?«, fragte sie.
»Ich?« McDaid hob die Brauen. »Natürlich bin ich ihm hier und da
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