Der Verräter von Westminster
begegnet, aber kennen? So gut wie nicht.«
»Eigentlich meinte ich damit, ob Sie miteinander bekannt sind.«
»Früher habe ich das gedacht.« Er warf einen unauffälligen Blick zu dem Mann hinüber. »Aber Tragödien verändern den Menschen. Vielleicht bringen sie auch nur zum Vorschein, was schon immer da war, ohne an die Oberfläche zu gelangen. Wie gut kennt man einen Menschen denn? Und wie gut sich selbst.«
»Ausgesprochen metaphysisch«, gab sie trocken zurück. »Die Antwort auf diese Frage lautet, dass man mehr oder weniger zutreffende Vermutungen anstellen kann, je nachdem, wie klug man ist und welche Erfahrungen man mit dem Betreffenden gemacht hat.«
Er sah sie unverwandt an. »Victor hat gesagt, dass Sie … sehr direkt sind.«
Sie fand es sonderbar, dass jemand Narraway formlos beim Vornamen nannte, da sie an die Distanz gewöhnt war, die Menschen in Führungspositionen einforderten.
Sie war nicht sicher, ob sie im Begriff stand, McDaid zu kränken. Andererseits würde ihr die Gelegenheit entgleiten, wenn sie zu schüchtern war, auch nur anzusprechen, was sie wirklich wissen wollte.
» Wie war O’Neil, als Sie ihn kennengelernt haben?«, fragte sie mit entwaffnendem Lächeln.
Seine Augen weiteten sich.
»Hat Ihnen Victor das nicht gesagt? Wie interessant.«
»Hatten Sie das von ihm erwartet?«, fragte sie zurück.
»Warum interessiert er sich für ihn, ausgerechnet jetzt?« Er saß reglos da. Um ihn herum bewegten sich Theaterbesucher in alle Richtungen, lächelten, winkten, suchten ihren Platz, nickten zustimmend zu etwas, was man ihnen sagte, machten sich Bekannten bemerkbar.
»Vielleicht kennen Sie ihn gut genug, um ihn danach zu fragen?«
Er hielt dagegen: »Sie etwa nicht?«
Mit unverändert warmem und zugleich leicht belustigtem Lächeln gab sie zurück: »Doch, selbstverständlich. Aber ich würde Ihnen seine Antwort nicht wiederholen. Sicher kennen Sie ihn gut genug, um zu wissen, dass er niemandem sein Vertrauen schenken würde, auf den er sich nicht in jeder Hinsicht verlassen kann.«
»Dann kennen wir vielleicht beide die Antwort, und keiner traut dem anderen«, sagte er nachdenklich. »Eine wie absurde und unglaublich menschliche Situation, die zugleich allerlei seelische Verletzungen ermöglicht – geradezu der Stoff für eine Komödie.«
»Nach Cormac O’Neils Aussehen zu urteilen, war es zumindest in seinem Fall eine Tragödie«, hielt sie dagegen. »Er dürfte wohl eines der unschuldigen Zufallsopfer des Krieges sein, von denen Sie gestern gesprochen haben.«
Er sah sie ruhig an, und einen Augenblick lang nahm keiner der beiden die Geräusche um sie herum wahr. »Das stimmt«, sagte er leise. »Aber das liegt zwanzig Jahre zurück.«
»Vergisst man so etwas denn?«
»Ein Ire? Nie. Und Engländer?«
»Manchmal«, gab sie zurück.
»Selbstverständlich. Es dürfte ihnen wohl auch kaum möglich sein, sich an all ihre Opfer zu erinnern!« Sogleich fing er
sich und fragte mit verändertem Gesichtsausdruck: »Wollen Sie ihm vorgestellt werden?«
»Ja, bitte.«
»Ich werde mich darum kümmern«, versprach er.
Auf die Unruhe im Zuschauerraum folgte völlige Stille. Gleich darauf hob sich der Vorhang, und die Vorstellung begann. Charlotte konzentrierte sich auf die Handlung, um in den Pausengesprächen bestehen zu können, denn sicher würde McDaid sie dann mit weiteren Menschen bekanntmachen. Wenn sie keine Kommentare zu dem Stück beitragen konnte, würde man ihr das als mangelndes Interesse auslegen, und das war hier unverzeihlich.
Es fiel ihr schwer, allen Windungen der Handlung zu folgen. Nicht nur wurde häufig auf Ereignisse angespielt, von denen sie nichts wusste, es wurden sogar Wörter verwendet, die sie nicht kannte. Über dem Ganzen lag eine schwermütige Stimmung, so, als sei den Hauptdarstellern bewusst, dass am Ende ein Verlust stehen würde, an dem nichts von dem, was sie sagten oder taten, etwas ändern konnte.
Ob sich Cormac O’Neil so fühlte wie die Personen in dem Stück: ohnmächtig dem alles überrollenden Schicksal ausgeliefert? Persönliche Verluste waren ein Bestandteil des Lebens. Die einzige Möglichkeit, sie zu vermeiden, bestünde darin, niemanden zu lieben. Nach einer Weile gab sie ihre Bemühungen auf, der Handlung auf der Bühne zu folgen, und beobachtete unauffällig O’Neil.
Er schien ohne Begleitung gekommen zu sein. Die Menschen links und rechts von ihm schienen zu anderen zu gehören, denn er wandte kein einziges Mal den Kopf
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