Der Verräter von Westminster
zu ihnen. Während der ganzen Zeit, da sie zu ihm hinsah, richtete niemand das Wort an ihn und auch er an keinen der anderen, und er sah auch zu niemandem hin, wenn die Schauspieler eine besonders gelungene Sentenz zum Besten
gaben oder ein Handlungselement die Zuschauer tief anrührte.
Je länger sie ihn beobachtete, desto vollkommener schien seine Einsamkeit zu sein. Zugleich aber merkte sie, dass er alles andere als gelangweilt wirkte. Nicht eine Sekunde lang nahm er den Blick vom Geschehen auf der Bühne, doch so manches Mal spiegelte sich, was er sah, nicht auf seinen Zügen. Was ihm wohl durch den Kopf gehen mochte? Andere Zeiten und Ereignisse, andere Tragödien, die mit der hier gezeigten durch nichts als die Tiefe der Empfindungen verbunden waren?
Als es im Saal zur Pause hell wurde, merkte Charlotte, dass eine von den Akteuren wie auch dem Publikum ausgehende Leidenschaftlichkeit sie gepackt hatte, der sie sich nicht entziehen konnte. Zugleich verwirrte es sie, es vermittelte ihr mehr noch als die andere Sprechweise, dass sie sich an einem fremden Ort befand, voller Empfindungen, die sie zwar wahrnahm, die sich ihr aber sogleich entzogen.
» Wollen wir etwas trinken gehen?«, fragte McDaid, als der Vorhang gefallen war. »Vielleicht kann ich Sie dann auch dem einen oder anderen meiner Bekannten vorstellen. Sicher sterben die vor Neugier zu erfahren, wer Sie sind, und natürlich werden sie auch wissen wollen, woher ich Sie kenne.«
»Sehr gern«, gab sie zurück. »Und woher kennen Sie mich? Da wäre es doch sicher am besten, wenn wir dasselbe sagten, weil die Leute sonst anfangen würden zu reden.« Sie lächelte, um ihren Worten den möglichen Geschmack einer Kränkung zu nehmen.
»Hat nicht ein Theaterbesuch mit einer schönen Frau den einzigen Zweck, zu erreichen, dass die Leute reden?« Er hob die Brauen. »Sonst würde man doch besser allein kommen wie Cormac O’Neil und sich auf das Stück konzentrieren, ohne sich ablenken zu lassen.«
»Vielen Dank. Der Gedanke, ich könnte Sie ablenken, schmeichelt mir.« Sie neigte den Kopf leicht kokett. »Vor allem von einem so aufwühlenden Drama. Die Schauspieler sind glänzend. Ich hatte zwar die halbe Zeit keine Ahnung, wovon sie reden, trotzdem schlagen mich die von ihnen vermittelten Gefühle in ihren Bann.«
»Sind Sie ganz sicher, dass Sie keine Irin sind?«, fragte er.
»Überhaupt nicht. Vielleicht bin ich es ja tatsächlich zum Teil. Ich müsste einfach gründlicher suchen. Aber sagen Sie Mr O’Neil bitte nicht, dass auch meine Großmutter eine geborene O’Neil war, weil ich mich sonst gezwungen sähe zuzugeben, dass ich kaum etwas über sie weiß. Das würde doch ausgesprochen unhöflich wirken, so, als missbilligte ich diesen Teil meiner Herkunft. Ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung, als wie interessant sie sich erweisen würde.«
»Ich werde es ihm nicht sagen, wenn das Ihr Wunsch ist«, versprach er.
»Aber Sie haben mir noch nicht gesagt, wie wir einander kennengelernt haben«, erinnerte sie ihn.
»Ich habe Sie in einem Raum voller Menschen gesehen und eine gemeinsame Bekannte gebeten, uns vorzustellen«, sagte er. »Lernt man eine Frau, die man sieht und bewundert, nicht immer auf diese Weise kennen?«
»Gut möglich. Aber was für ein Raum war das? Hier in Irland? Vermutlich nicht, denn ich bin erst zwei Tage hier. Waren Sie denn in jüngster Zeit in London?« Mit einem Lächeln fügte sie hinzu: »Oder überhaupt jemals?«
»Selbstverständlich. Sie halten mich doch nicht etwa für einen Hinterwäldler?« Er zuckte die Achseln. »Allerdings nur einmal. Die Stadt hat mir nicht zugesagt – und ich ihr auch nicht. Sie ist so ungeheuer groß, so voller Menschen und gleichzeitig so anonym. Man könnte dort leben und sterben, ohne je wahrgenommen zu werden.«
»Jedenfalls bin ich doch erst seit zwei Tagen in Dublin«, erinnerte sie ihn noch einmal, um das Schweigen zu füllen.
»Dann haben Sie mich eben auf den ersten Blick behext«, sagte er und lächelte plötzlich wieder. »Es tut mir leid, etwas Kränkendes über Ihre Heimat gesagt zu haben. Das ist unverzeihlich. Führen wir es auf meine eigene Unzulänglichkeit inmitten von drei Millionen Engländern zurück.«
»Oh, unter denen gibt es eine ganze Menge Iren, das dürfen Sie mir glauben«, sagte sie lächelnd. »Und keiner von denen ist im Geringsten unzulänglich.«
Er verneigte sich.
»Und ich habe in unverantwortlicher Weise Ihre Einladung angenommen, weil ich mich
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